„So einfach ist das nicht.“ entgegnete ich.
Lange machte ich es mir einfach. Nicht bewusst – ich hatte einfach nie diese andere, selten sichtbare Realität kennengelernt. Diese Realität, in der Frauen mehr und höhere Hindernisse überwinden müssen als Männer. Diese Realität, in der es gläserne Decken und klebrige Böden gibt.
Ich wuchs auf dem Bauernhof auf, zusammen mit zwei Brüdern, meinen Eltern und meiner Tante. Arbeit gab es genug und sie wurde verteilt auf die drei Erwachsenen. Meine Mutter und meine Tante halfen viel mit im Stall und im Garten. Kleine Hilfsaufgaben für uns Kinder wurden immer pingelig genau gedrittelt und gleichmässig verteilt. (Die Einteilung des zu wischenden Vorplatzes ergab ungleich grosse Flächen – weswegen wir ein Rotationssystem befolgten.) Alle drei Kinder wuschen ab, alle mähten den Rasen. Alle erhielten den gleichen Festtags-Dino-Pulli. Wir mochten alle drei Lego. Einige Jahre später spielten wir Computer-Games (natürlich dieselben: Caesar, Age of Empires 2, Anstoss 3) abwechselnd vor dem Bildschirm – und natürlich achteten wir genau darauf, dass die Zeiten in etwa ausgeglichen waren (okay, manchmal brauchte es Mamas Machtwort).
Ich mochte keine Pferde. Ich verabscheute klitzekleinste Resten von rosa oder Glitzer auf Kleidern. Mit einer geschenkten Barbie spielte ich ein einziges Mal, dann landete sie in einer Kiste unter dem Schrank. Zwischen 3 und 24 Jahren trug ich nie einen Rock. Das, was andere Mädchen an Kleidung und Hobbys mochten, das fand ich doof: Ich war ein Mädchen, ja, aber wieso sollte ich nun rosa, Barbie und Pferde mögen? Dieses Einteilen von Vorlieben und Verhaltensweisen nach Geschlechtern leuchtete mir nicht ein. Ich ging meinen Weg in der Schule, in den Beruf (KV), ins Studium (Sozialwissenschaften) – die Türen öffneten sich, wenn ich interessiert war und die nötige Kompetenz bewies. Es gab den Menschen Rahel, der seinen Weg ging, und um ihn herum waren andere Menschen, die ihren Weg gingen, gemäss ihren Wünschen und Vorstellungen. Mein Leben, die gelebte und hiermit erwiese Gleichberechtigung. Feminismus betrachtete ich als Kampfbegriff aus den Siebzigern. Wie schön und einfach meine damalige Welt war.
Und wie naiv. Über die Jahre des fortschreitenden Studiums, der ersten Erfahrungen in der Politik, der gesellschaftlichen Debatte (#metoo) und der intensiven Diskussionen mit Freund*innen (ja, du!) leuchteten immer mehr Lämpchen: Es gibt Dinge, die uns – allen Menschen – Türen öffnen oder im Wege stehen, aber nicht sichtbar werden. Die uns anleiten, ganz unbewusst unsere Vorstellungen und Rollenbilder prägen. Das gilt auch für das Geschlecht. Manches gibt uns die Biologie vor (englisch: „Sex“), aber das meiste die Rolle in der Gesellschaft (englisch: „Gender“). Mein Studium und meine Forschung befass(t)en sich ganz stark mit sozialen Strukturen, und eine Perspektive auf solche Strukturen kann diejenige der Geschlechter sein. Ich erinnere mich noch, wie ich mich gerade zu Beginn des Studiums eher langweilte: Es leuchtete mir in meiner schön einfachen und gleichberechtigten Welt nicht ein, wieso man Fragestellungen der internationalen Entwicklungsarbeit auch noch aus der Geschlechter-Perspektive untersuchen sollte. Heute arbeite ich in meiner Forschung nicht mit Gender-Ansätzen – aber wenn ich auf mein Untersuchungsfeld der Digitaltechnologien blicke und zu einer überwältigenden Mehrheit Männer sehe, dann ist mir bewusst: Es gibt starke geschlechterspezifische Rollenbilder und sie haben einen massiven Einfluss auf die Gesellschaft.
Anschauungsunterricht im Parlament
Wenn ich auf meinem Sitz im Luzerner Parlament hocke und ins Parlament blicke, ist das Anschauungsunterricht: Auf eine (weibliche) Parlamentarierin kommen drei (männliche) Parlamentarier. Auf fünf Regierungsräte kommt – keine Frau. Nur das assistierende Personal der Staatskanzlei ist überwiegend weiblich. Natürlich mit Ausnahme ihres Chefs, des Staatsschreibers. Ich merke, wie die Geschlechter-Frage für mich an Bedeutung gewonnen hat, seit ich Teil des Parlaments bin. Prägnante und sehr angriffige Voten erlebe ich öfters von Männern – und dass wenn sie von Frauen kommen, diese Politikerinnen dann viel kritischer hinterfragt werden (als die ebenso angriffigen Politiker). Im politischen Betrieb zählt klare Argumentation, ein griffiges Statement und das Zitat in der Presse – wenig Platz für meine gedanklichen Differenzierungen und deliberativen Problemerörterungen. Wenig Platz für Eigenschaften, die eher Frauen zugeschrieben werden: Unsicherheit, kritisches Hinterfragen der eigenen Fähigkeiten, Empathie.

Besonders akzentuieren sich die Geschlechterunterschiede jeweils bei der Suche nach Kandidierenden für die Wahllisten. In allen Parteien ist es ein grosses Thema: Wie überzeugt man Frauen, zu kandidieren? Egal ob Frau oder Mann: Wer für ein politisches Amt kandidiert, hat hohe Ansprüche an sich selbst – aber vor allem Frauen haben dann meist das Gefühl, dass es ein Problem würde, sollten sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden können. Männer tun’s einfach mal. Für die Kandidierenden der Grünen boten wir vor einigen Wochen einen Workshop zum persönlichen Auftreten an. Angemeldet hatten sich schliesslich neun Frauen und ein Mann – es soll niemand sagen, es seien nicht grundsätzlich Frauen, die sich mehr Gedanken um den eigenen Auftritt machen. Beziehungsweise machen müssen: Sie werden von der Öffentlichkeit nämlich viel kritischer beäugt und beurteilt.
Es gibt noch eine Menge anderer, unsichtbarer Hindernisse für Frauen in Gesellschaft und Politik: Netzwerke, die von Männern dominiert sind (Zünfte sind hier nur das extremste Beispiel) und die so funktionieren, dass Posten und Unterstützung unter ihren Mitgliedern vergeben werden. Oder ganz banal: Noch immer sind 90 % der Wikipedia-Autor*innen Männer und dementsprechend 85 % der Biografien auf der Plattform über Männer – damit auch Frauen Bedeutung und eine Existenz im digitalen Raum erhalten, organisiert die Wirtschaftsjournalistin Patrizia Laeri die Aktion „Frauen für Wikipedia“. „Kind oder Karriere“ gilt im Luzerner Parlament: Familienuntaugliche Sessions- und Sitzungszeiten, die hauptsächlich Frauen treffen, solange immer noch Mütter den grösseren Anteil an Kinderbetreuung übernehmen. Fehlende Regelungen für Mutterschaftsurlaub (und vielleicht künftig auch Vaterschaftsurlaub) im Parlament – der Sitz bleibt einfach leer. Oder man paart sich bevorzugt Ende September, damit der Geburtstermin auf den Beginn der Sommerpause fällt.
Fünf Pizzen für eine Frauen-Kandidatur
Mein Bewusstsein für Geschlechterfragen hat sich in den letzten Monaten, in denen ich mich in Politik und Wissenschaft in vermehrt männerdominierten Bereichen betätigte, geschärft. Erfreulicherweise bewegt das Thema auch die Medien: zentralplus und die Sempacher Woche identifizieren mich als „weibliches Vorbild“ und fragen: Wieso so wenig Frauen? 041 – Das Kulturmagazin versammelt fünf Frauen aus fünf Parteien am runden Tisch, um die Rolle der Frauen zu ergründen – und das beste an der Frauenrunde liest sich nicht im Magazin. Nämlich das wir fünf noch Stunden hätten weiterdiskutieren können, weil wir so häufig mit ähnlichen Situationen konfrontiert sind (aber nicht immer gleich damit umgehen). Wer hätte gedacht, das man in der CVP fünf Pizza-Zmittage investiert, um eine Frau zu einer Kandidatur zu überzeugen? Und wir versuchen, im Parlament etwas zu bewegen: Dank einem überparteilichen Vorstoss wird in den Wahlunterlagen auf die Untervertretung von Frauen hingewiesen. Zudem habe ich mit Melanie Setz zusammen das Thema Stellvertretungsregelung für Parlamentarier*innen auf die Agenda gesetzt.
Was der Rest des Parlaments dazu meint, wird sich zeigen. Und: Sollte der Frauenanteil im Luzerner Parlament demnächst steigen, so ist zu hoffen, dass sich dieses für Frauen nicht als „klebriger Boden“ herausstellt und der Sprung auf nächsthöhere Stufen – Fraktions- und Kommissionspräsidien, der Regierungsrat – gelingt und sie ihren Kopf nicht an gläsernen Decken stossen. Es braucht Frauen, die vorangehen und sich nicht scheuen – aber vor allem auch veränderte Strukturen. Diese Veränderungen werden passieren. Die Frage ist nur, wie lange es dauert.
Als SVP-Präsidentin Angela Lüthold – die übrigens bezüglich der Übernahme von Verantwortung ein tolles weibliches Vorbild ist – in der Frauenrunde des Kulturmagazins vor einigen Wochen meinte, dass Frauen, die in die Politik möchten, grundsätzlich alle Möglichkeiten offen stünden, wurde mir bewusst, wie stark sich mein Bewusstsein für die Bedeutung der Geschlechterrollen in den letzten Jahren verändert hat. Vor gut zehn Jahren hätte ich ihr zugestimmt. Nun verabschiedete ich in diesem Moment das gleichberechtigte Vorplatz-Wischen mit meinen Brüdern, unsere drei identischen Dino-Pullis, die Illusion der Welt ohne Geschlechterrollen – und akzeptierte, mich fortan (auch) als Feministin zu sehen. Ich entgegnete Angela Lüthold: „So einfach ist das nicht.“
Wir können und sollen für Frauen die unsichtbaren Hindernisse abbauen und Türen öffnen, möglichst bald. Für Vielfalt und Gleichberechtigung. Es braucht den Frauentag wohl noch lange. So wie auch mich als Politikerinnen-Vorbild. Und als Feministin.