Fraktionserklärung Klimabericht NettoNull 2050

Zum Abschluss der rund 20-stündigen Debatte rund um den Klimabericht des Kantons Luzern für NettoNull 2050 im Luzerner Kantonsrat hielt ich die Fraktionserklärung namens der GRÜNEN. Die Erklärung beinhaltet eine Einordnung, was wir in der Luzerner Klimapolitik bereits erreicht haben und welcher Weg noch vor uns liegt.

Die Video-Aufzeichnung des Votums vom 21. März 2022 findet sich unter diesem Link (mit Zeitstempel).

Herr Präsident, geschätzte Kolleginnen und Kollegen

Wir haben gerade einen Meilenstein in der Luzerner Klimapolitik gesetzt: Als Kanton haben wir uns damit befasst, wie wir die grösste Herausforderung dieses Jahrhunderts angehen wollen. Wie wir die Klimakrise bekämpfen, die Lebensgrundlagen unseren Planeten sichern – und uns trotzdem mit einer erhitzten Welt arrangieren. Auf diesen Meilenstein und die Arbeit, die darin eingeflossen ist, darauf dürfen wir auch ein bisschen stolz sein.

Wir haben zusammen die ersten Schritte auf einem langen Weg unternommen. Aber wir müssen uns auch bewusst sein: Das absolvierte Teilstück ist klein im Vergleich zu dem Wegstück, das noch auf uns wartet, bis wir im Einklang mit den Grenzen unseren Planeten leben und wirtschaften können.

Heute schreiben wir den 21. März. Am 25. Februar, vor dreieinhalb Wochen, fiel der letzte Tropfen Regen in der Stadt Luzern. In diesem Monat März blieben die Regenbecher bisher ausnahmslos leer. Und wenn man sich die Prognosen für die nächsten, letzten März-Tage anschaut, so könnte dieser März 2022 ein Monat ohne einen Millimeter Niederschlag in Luzern bleiben. Die vielen Landwirtinnen und Landwirte in unserem Kanton können ihnen sagen, was eine lange Trockenheit bedeutet, und wie sich das Klima in den letzten Jahren verändert hat.

Für die Klimakrise brauchen wir nicht in die Zukunft zu schauen. Wir brauchen keine extremen Wetterereignisse vom anderen Ende des Globus. Nein, die Klimakrise findet hier und jetzt statt, auch bei uns. Manchmal still wie die Trockenheit in diesem März. Manchmal laut wie die Hagelgewitter im letzten Juni.

Wie es jetzt, in den nächsten Monaten und Jahren, weitergeht, ist entscheidend. Aus Sicht der GRÜNEN und Jungen Grünen wäre es jetzt der grösste Fehler, sich nun zurückzulehnen und zu sagen: 2050 ist noch weit weg, und irgendwann werden wir dank Technologien ohne grosse Anstrengung netto null erreichen. Das Budget an CO2, das unsere Atmosphäre noch verträgt, könnte innerhalb der nächsten Jahre schon aufgebraucht sein. Jedes Zehntelgrad Erwärmung, das wir in den nächsten Jahren verhindern, wird sich mehrfach auszahlen – für die Natur, aber auch ein bisschen für unser Portemonnaie. Es braucht eine schnelle Absenkung der Emissionen. Das ist keine Ideologie, sondern Naturwissenschaft. Und Finanzbuchhaltung. Leider ist dies im Klimabericht nicht genügend anerkannt, dass es einen schnellen Absenk-Pfad und die nötigen finanziellen Investitionen braucht, um problematische Kipppunkte im Klima zu verhindern. Wir GRÜNE werden den Bericht nicht in zustimmendem Sinne zur Kenntnis nehmen, sondern neutral. Wir sind ambivalent. Mein folgender Ausblick wird zeigen, dass wir gewisse Leitplanken für die nächste Zeit, die wir nun im Klimabericht gesetzt haben, zukunftsfähig finden – andere weniger.

Schauen wir also voraus – denn nun geht es darum, dass wir uns schnell an die Umsetzung des Klimaberichts machen müssen. Gemeinsam wollen wir schnell die Gesetzesänderungen anpacken – wir haben das bekräftigt, indem wir bald Vorlagen zu den Revisionen des Energiegesetzes, des Planungs- und Baugesetzes und des Steuergesetzes verlangen. Leider haben wir es nicht gewagt, ambitionierte Ziele für einen emissionsarmen Verkehr zu setzen – dabei wäre das einer der grössten Hebel in unserem Kanton. Auch müssen wir es schaffen, unsere Landwirtschaft mitzunehmen in eine veränderte Zukunft – nicht nur die natürlichen Grundlagen verändern sich durch den Klimawandel, auch der Konsum wird sich verändern. Die Landwirtschaft hat den Schlüssel in der Hand, unsere Lebensgrundlagen der Zukunft zu schaffen. Wir Grüne und Junge Grüne möchten gerne Hand bieten, hier gemeinsam Lösungen zu finden – dies bedingt allerdings, dass sich alle aufeinander zu bewegen.

Als Lebensgrundlage brauchen wir neben einer Senkung der CO2-Emissionen auch eine intakte Biodiversität. Wir vergessen diese Aspekt vor lauter Zählung von Tonnen CO2 allzu leicht. Aber die Klimakrise ist auch eine Biodiversitätskrise. Leider fristet dieses Thema im Klimabericht ein Schattendasein. Diese Hausaufgabe verbleibt in der Pendenzenliste unseres Kantons, und wir werden nicht zögern, ihn daran zu erinnern.

Die Energiewende haben wir heute hier drin bestätigt. Die Zukunft liegt bei den Erneuerbaren Energien, da sind wir uns fast alle einig.

Und trotzdem zögern wir, leider – obwohl wir in den letzten Monaten gemerkt haben, wie dringlich dieser Ausbau ist. Zuletzt hat uns der Ukraine-Krieg dies vor Augen geführt: Erneuerbare Energien sind auch Friedens- und Freiheitsenergien. Rohstoffe sind sehr oft der Gegenstand oder ein wichtiger Bestandteil von kriegerischen Auseinandersetzungen. Mit Ausnahme von Norwegen sind alle, alle Länder, von denen wir fossile Energien beziehen, autoritäre Staaten. Wir schonen das Klima, wir stärken unsere Unabhängigkeit, Frieden und Demokratie, je schneller wir unsere Energieversorgung fossilfrei gestalten. Wir GRÜNE und Junge Grüne verlangen, dass wir nun nicht alle Hebel in Bewegung setzen für einen noch schnelleren Ausbau der Solarenergie in der Schweiz. Jedes besonnte Dach in der Schweiz braucht eine Solaranlage – wir freuen uns auf eine schnell vorliegende Botschaft zur Anpassung des Gesetzes, wie die Regierung dies hier angekündigt hat.

Den Weg in eine Welt, welche gegen die Klimaerhitzung kämpft und sich gleichzeitig ihr anpasst, können wir in der Politik nicht alleine gehen. Wir müssen die Bevölkerung mit ihren Ängsten und Bedürfnissen ernst nehmen, und wir dürfen nicht einfach die Kosten uneingeschränkt auf sie abwälzen. Klimaschutz geht nur sozial – ansonsten ist er nicht akzeptiert. Deshalb ist es wichtig, dass wir die soziale Verträglichkeit nicht aus den Augen verlieren.

Ich werde in dieser Fraktionserklärung nicht mehr länger. Denn es ist jetzt genug geredet. Es ist Zeit, zu handeln. Die Klimakrise ist jetzt und hier und der Weg noch lang.

Wir messen die Regierung und unseren eigenen Rat an ihren Taten, die jetzt folgen werden.

Zusammen müssen wir uns dieser Herausforderung stellen, zusammen müssen wir es schaffen, die Lebensgrundlage unseres Planeten zu sichern.  Es gibt keinen Planeten B.

Warum ich beantragt habe, dass das Luzerner Parlament trotz Pandemie tagt

Am 10. April habe ich einen Antrag unterschrieben, damit ich endlich wieder tun kann, wofür mich die Luzerner Bevölkerung vor einem Jahr (wieder-)gewählt hat: meine politischen Ansichten in den Luzerner Kantonsrat einbringen. Trotz Pandemie. [1] Beziehungsweise gerade deswegen.

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Die kurzfristige Absage der März-Session war für mich nachvollziehbar. Sie hätte an jenem denkwürdigen Montag gestartet, als der Bundesrat den Shutdown des öffentlichen Lebens verkündete – der Parlamentsbetrieb wäre im Minimum chaotisch und im Maximum gesundheitsgefährdend gewesen.

Die Absage der Mai-Session empfand ich als undemokratischen Affront. Am 31. März hatte die Geschäftsleitung des Kantonsrats dies entschieden, sechs Wochen vor dem Termin. Natürlich, in diesen Tagen waren die gemessenen Ansteckungen auf einem Höhepunkt, die Verunsicherung über die Entwicklung des Coronavirus war (und ist) riesig, wir müssen deshalb alle unsere derzeitigen Planungen stets mit einem Stern versehen: *sofern es die Lage erlaubt. Niemand will tagen, wäre das halbe Parlament krank. Dass man die Session bereits „vorsorglich“ absagte, trotz genügend Zeit zur Vorbereitung und Umsetzung der Distanz-Regelung, verstehe ich nicht. Vor allem zeugt es davon, wie gering man das Parlament und seine Arbeit schätzt.

Diese Geringschätzung stimmt mich besonders nachdenklich, weil wir als Parlament die Bevölkerung und ihre Ansichten repräsentieren und vertreten. Die Pandemie und die Anstrengungen, um sie einzudämmen – die ich für nötig und richtig halte – wälzen unsere Gesellschaft und Wirtschaft um wie nichts mehr seit dem Zweiten Weltkrieg. Unsere Grundrechte werden massiv eingeschränkt, Militär und Zivilschutz mobilisiert, Wirtschaftszweige stillgelegt und Milliarden-Hilfspakete geschnürt. Ich muss das nicht weiter ausführen, wir alle wissen: Was gerade an Veränderungen passiert, ist gigantisch und einschneidend. Sowohl die Massnahmen, mit denen wir die Virus-Verbreitung bekämpfen, wie auch diejenigen, mit denen wir versuchen, die sozialen und wirtschaftlichen Schäden abzufedern, sind Weichenstellungen, die unsere Gesellschaft für die nächsten Jahre prägen. Und bei all dem soll die Bevölkerung aussen vor bleiben? Die direktdemokratischen Instrumente (Unterschriftensammlungen, Versammlungen und Abstimmungen) wurden ausgesetzt – und nun soll auch die repräsentative Vertretung im Parlament ruhen?

Der Einwand liegt auf der Hand: Geben derzeit nicht sowieso die Exekutiven den Takt vor, allen voran natürlich der Bundesrat auf nationaler Ebene, und die Rolle des Luzerner Kantonsrats ist im Moment vernachlässigbar? Dem halte ich zwei Dinge entgegen:

Erstens sind durchaus wichtige Verantwortlichkeiten, die viele Menschen ganz direkt betreffen, auf kantonaler Ebene angesiedelt: Die Kita-Unterstützungsfrage beispielsweise (der Bund hat den Ball den Kantonen zugespielt), allfällige zusätzliche Unterstützung für Unternehmen und Kulturbetriebe (angepasst auf die lokalen Begebenheiten), viele offene Fragen im Bildungsbereich (Abschlussprüfungen und -zeugnisse sowie Übertrittsverfahren, beispielsweise). Und auch gerade im so zentralen Gesundheitswesen hält der Kanton wichtige Hebel in der Hand. Hier braucht es vielleicht Entscheide des Kantonsrates, vielleicht auch nicht – vor allem braucht es die Debatte mit allen politischen Kräften. Auch neben der Pandemie gibt Geschäfte, die bereit sind und schnell erledigt werden sollen: Beispielsweise liegt der Ausbau der Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität bereit.

Zweitens, und hier hüpft mein Herz auf den rechtsstaatlichen Fleck: Nur wenn das Parlament tagt, können wir die Regierung rechenschaftspflichtig halten. Nur dann können wir auf parlamentarischem Weg Fragen stellen und Anliegen einbringen. Das ist (auch) unsere Aufgabe als Legislative: Das Handeln der Regierung kontrollieren und wo nötig und im Rahmen der Kompetenzen legitimieren und korrigieren. Informationen und Rechenschaft einfordern. Und zwar nicht hinter verschlossenen Kommissionstüren, sondern in der Öffentlichkeit. Nur dann spielen die Checks-and-Balances zwischen den Gewalten, die eine Demokratie so erfolgreich machen.

Gerade im Kanton Luzern ist die Kontrollfunktion des Parlaments der Regierung gegenüber besonders bedeutsam, weil eine grosse Minderheit der politischen Kräfte nicht in die Exekutiv-Gewalt eingebunden ist.

Gerade im Kanton Luzern ist die Kontrollfunktion des Parlaments der Regierung gegenüber besonders bedeutsam, weil eine grosse Minderheit der politischen Kräfte nicht in die Exekutiv-Gewalt eingebunden ist. Seit fünf Jahren regieren Bürgerliche. Seit den Wahlen vor einem Jahr beträgt das Missverhältnis 35 % (SP, Grüne, Grünliberale), ein satter Drittel des Parlaments sieht seine parteipolitischen Ansichten in der Regierung nicht vertreten. Das widerspricht der schweizerischen Tradition der Konkordanz (und ist wohl in diesem krassen Missverhältnis in keinem anderen Kanton zu finden, wie ein kurzer Blick auf alle Kantonsregierungen zeigt). Man hätte also etwas demokratisches Gespür von den Regierungsparteien erwarten können – nope.

Richtig irritierend fand ich dann die Reaktion auf unsere Forderung, die Demokratie zu beleben und die Session durchzuführen: Es sei Selbstinszenierung, die Parlamentsarbeit in der Coronakrise „Symbolpolitik“, die Session koste zu viel – und einzelne Exponenten des Freisinns denken sowieso, Parlamentarier*innen seien nur arbeitswillig wegen des Sitzungsgeldes (das wären dann 350 Fr. pro Tag, inklusive Reiseentschädigung). Schade – vor über 150 waren es die Ahnen genau jener Liberalen, die unseren Bundesstaat mit Demokratie und Rechtsstaat begründeten. Glücklicherweise scheinen die grundrechtlichen Geister andernorts wach, auch auf bürgerlicher Seite: So warnte just Ende März Ständerat Andrea Caroni, FDP, vor einem „Anti-Parlamentarismus“ (er meinte damit aber in der Bevölkerung, nicht in der eigenen Partei). Zudem planen viele Kantone, ihre Mai-Session – mit den nötigen örtlichen Anpassungen – durchzuführen. So liess der Kanton Schwyz, ultra-bürgerlich übrigens, stolz verlauten: „Sie [die Leitung des Kantonsrats] will damit ein Zeichen setzen, dass der Kantonsrat auch in der ausserordentlichen Lage funktioniert.“

Damit dies auch für den Kanton Luzern gilt, haben 30 Parlamentarier*innen erfolgreich beantragt, dass die Mai-Session des Kantonsrats stattfindet. Es ist die Parlamentsvertretung, für die wir Kantonsrät*innen von unseren Wähler*innen das Mandat erhalten haben – und ich finde diese Arbeit für die Demokratie ziemlich systemrelevant.

[1] Ich argumentiere hier aus der Position einer relativ jungen Politikerin ohne Vorerkrankungen. Ich verstehe, dass für andere Parlamentarier*innen, insbesondere jene aus Risikogruppen, der Gedanke an eine mehrtägige Session Unbehagen auslöst. Dem Ansteckungsrisiko müssen wir begegnen und inbesondere Personen aus Risikogruppen besonders gut schützen. Mit einer guten Vorbereitung halte ich es für machbar, dass alle Parlamentarier*innen mit der nötigen Distanz und möglichst ohne Nah-Kontakt trotzdem an unserer Session teilnehmen können. Das ist wichtig – vor allem da es wahrscheinlich ist, dass die Mai-Session nicht die letzte unter dem „Social-Distancing-Regime“ bleiben wird.

 

Beyond Ohnmacht: Workshop am Winterkongress

“Google und Facebook zerschlagen, dann erledigen sich viele Probleme von selbst!” Man mag diese Forderung unterstützen oder nicht, im schweizerischen Rahmen ist eine solche Regulierung schlicht nicht durchführbar. So bleibt die Frage: Braucht es Updates oder gleich neue Gesetzgebungen in der Schweiz für digitale Konzerne? Und wenn ja, was soll diese bewirken?

In diesem Rahmen organisierten Markus Schmidt und ich von der AG Netzpolitik der Grünen Schweiz am Winterkongress einen Workshop zum Thema “Beyond Ohnmacht – Wie Digitalkonzerne regulieren?” Das Warm-Up positionierten sich alle Teilnehmenden zu verschiedenen Thesen anhand ihrer Zustimmung – wobei sich die Meinungen zu zwei der drei Thesen ziemlich stark aufteilten. Nur bei These zwei war man sich einig: Die grossen Unternehmen lösen ihre ethischen und sozialen Herausforderungen früher oder später selber – NICHT!

Eine gute Ausgangslage, um Diskussionen darüber zu führen, unter welchen Bedingungen Digitalkonzerne wirtschaften sollen – vor allem aber auch, welche alternativen Konzepte und Standards wir im Netz (fördern) wollen. Die Teilnehmenden haben in Kleingruppen verschiedene Ansätze diskutiert und einen Text zum Einstieg erhalten. Die Gruppen hatten folgenden Fokus:

  1. Elizabeth Warren: Digitalkonzerne zerschlagen (Text)
  2. Alternativen entwickeln und pushen (Text)
  3. Offene Standards und Interoperabilität als Lösung? (Text)
  4. Divestment: Die Macht der (öffentlichen) Investor*innen (Text)
  5. Ein Zertifikat für ethisches Design (Text)
  6. Öko-System schaffen durch Teilen von Daten (Text)
  7. Die Aufmerksamkeitsausbeutungssteuer (Text)
  8. Freie Gruppe

Ziel der Gruppen war es, am Ende der Diskussion eine Kurzforderung zu formulieren (maximal 140 Zeichen). Über diese Forderungen stimmten die Teilnehmenden am Ende online ab:

  • Gruppe 8 – (15 Stimmen) GNU-Net statt 70er-Jahre-Internetprotokoll / anonymer Online-Einkauf / Kultur der Nichtverwendung digitaler Technologien / keine Unternehmen im Internet / Datensammeln ist nachrichtendienstliche Tätigkeit
  • Gruppe 2 – (11 Stimmen) Der Staat soll dezentrale Open-Source-Infrastruktur fördern und dafür sensibilisieren, vor allem in Verwaltungen und Schulen.
  • Gruppe 5 – (5 Stimmen) Wir fordern ein internationales, unabhängiges Gremium, das aktive Transparenz, Verzicht auf manipulierende Techniken, Sensibilisierung und leicht verständliche AGBs zertifiziert
  • Gruppe 7 – (5 Stimmen) Nicht Aufmerksamkeit, sondern Umsätze in der Schweiz besteuern
  • Gruppe 6 – (4 Stimmen) Daten, Systeme und Services müssen entkoppelt werden.
  • Gruppe 1 – (3 Stimmen) Die Ballung der Marktmacht ist nicht wünschenwert. Massnahmen dagegen müssen allerdings auf supra-nationaler Ebene ergiriffen werden, damit sie eine Chance haben.
  • Gruppe 3 – (2 Stimmen) Wir fordern eine staatliche Grund-Infrastruktur, um  Interoperabilität, Datenhaltung und Datenhohheit der datengetriebenen Plattformen sicherzustellen.

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Bild: Diana Hornung

Vor allem der Massnahmekatalog der freien Gruppe konnte viele Stimmen auf sich vereinigen – wobei aufgrund der Vielfältigkeit die Aussage des Votums noch einige Interpretationsleistung verlangt. Als weiterer wichtiger Punkt wurde die Förderung von Open-Source-Projekten als Alternativen identifiziert. Steuerfragen sowie die Zertifizierung von ethischem Design sind präsente Themen, bei denen auch die Schweiz mitreden kann – und vielleicht sogar vorangehen soll.

Wie erwartet ohne fixfertiges Positionspapier, aber um viele Ideen und eine interessante Diskussionen reicher haben wir den Workshop abgeschlossen. Herzlichen Dank allen Mitdenker*innen! Die Ergebnisse werden wir in die Gruppe Netzpolitik tragen und in unser Programm einfliessen lassen.

Hier geht’s zu den Folien mit allen Thesen, Themen und Forderungen.

Beyond the Buzzword-Bingo: Digitale Nachhaltigkeit

Karl Digital #6 fragte, wie eigentlich Digitalisierung und Klimawandel zusammenhängen. Die Veranstalterin, die Digitale Gesellschaft, lud mich ein, einen Workshop zum Thema Digitale Nachhaltigkeit zu halten. Ich entwickelte ein Buzzword-Bingo zu diesem Thema und fragte gleichzeitig mich und das Publikum: Was bleibt eigentlich darüber hinaus von „Digitaler Nachhaltigkeit“ übrig?

Digital und Nachhaltigkeit, das sind zwei Schlagwörter. Als ich sie erforschte, stiess ich auf einige Schlagwörter mehr. Ein Buzzword-Bingo bot sich an, um das Thema zu ergründen. Es war insbesondere spannend, verschiedene Ansichten zu Digitaler Nachhaltigkeit anhand des Bingos zu vergleichen – schliesslich sind ja Schlagwörter immer nur so viel Wert wie der Inhalt, mit dem man sie füllt.

Ich wählte die folgenden beiden Konzepte:

Gemeinsam mit dem Publikum spielten wir das Buzzword-Bingo anhand der beiden Konzepte – mit dem folgenden Resultat:

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Es zeigte sich, dass Parldigi als überparteiliche Gruppierung ein sehr technisches Verständnis von Digitaler Nachhaltigkeit pflegt. Es steckt ein ganzes technisch-wissenschaftliches Konzept dahinter. Nachhaltig soll die Herstellung der (immateriellen) Produkte sein – im Gegensatz zum nachhaltigen Verbrauch von natürlichen Ressourcen. Bits und Bäume hingegen verknüpft die Digitale Nachhaltigkeit explizit mit dem Ziel der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit (Umweltschutz, Menschenrechte, …).

Ausserdem identifizierten die Teilnehmenden in einer lebhaften Diskussion verschiedene Begriffe und Aspekte, welche in beiden Konzepten fehlten. Merke: Grosse Begriffe wie Digitale Nachhaltigkeit sind immer nur so gut wie der Zweck, für den man sie einsetzt.

Danke allen Teilnehmenden für ihr Mitmachen und Mitdenken! Und danke auch an Nana Karlstetter und Dimitri Rougy für ihre Beiträge und die interessanten Diskussionen auf dem Podium vor dem Workshop.

Workshop: Big Data in den Sozialwissenschaften

Am 28. November 2019 war ich bei Interface (Unternehmen für Politikevaluation und -beratung) in Luzern eingeladen, einen Weiterbildungsworkshop zu leiten. Dieser stand unter dem Titel: Big Data in den Sozialwissenschaften.

(1) Was ist Big Data?

10 Charakteristika (Salganik 2018:17ff):

  • Big:
    Large datasets are a means to an end; they are not an end in themselves.
  • Always-on:
    Always-on big data enables the study of unexpected events and real-time measurement.
  • Nonreactive:
    Measurement in big data sources is much less likely to change behavior.
  • Incomplete:
    No matter how big your big data, it probably doesn’t have the information you want.
  • Inaccessible:
    Data held by companies and governments are difficult for researchers to access.
  • Nonrepresentative:
    Nonrepresentative data are bad for out-of-sample generalizations, but can be quite useful for within-sample comparisons.
  • Drifting:
    Population drift, usage drift, and system drift make it hard to use big data sources to study long-term trends.
  • Algorithmically confounded:
    Behavior in big data systems is not natural; it is driven by the engineering goals of the systems.
  • Dirty:
    Big data sources can be loaded with junk and spam.
  • Sensitive:
    Some of the information that companies and governments have is sensitive.

big-data-charakteristika

Neue Möglichkeiten

  • Re-Integration von quantitativer und qualitativer Expertise: gemeinsame Nutzbarmachung quantitativer (quantifizierte Daten, Umgang mit statistischer Software) wie qualitativer Kompetenzen (interpretative Kompetenzen, Vielfalt von Datensorten: neben Zahlen, Text, Bilder, Videos, etc.)
  • Erweiterung des Methodenwissens
  • Überwindung von Disziplinengrenzen und Kollaboration mit Natur- und Technikwissenschaften

Neue Stolpersteine und ungelöste Fragen

  • Gefahr neo-positivistisch-technokratischer Evidenzproduktion ohne Berücksichtigung sozialer Kontexte
  • ‘Kolonisierung’ der Sozial- durch Technikwissenschaften (zum Beispiel aktuelle Situation im Feld Computational Social Science) – interdisziplinäre Zusammenarbeit ist bisher eher die Ausnahme
  • Dominanz von Open Data (und anderen “Open-Feldern”: Open Science, Open Government etc.) > der grosse “Datenschatz” ist heute privatisiert
  • Infrastrukturen für entsprechende Forschung/Datenzugänge
  • Wer ist für die ethischen Fragen zuständig?

 

(2) Die Rolle der Sozialwissenschaften

  • ‘Domain knowledge’ natürlich 🙂
    grosse Datensätze werden fast ausschliesslich in heterogenen Teams zusammengesetzt aus verschiedenen Disziplinen bearbeitet. Sozialwissenschaftliche Expertise je nach Thema sehr wichtig
  • Verständnis für Methoden, Vorgehens- und Denkweisen der anderen Disziplinen
  • qualitativ-evaluative Expertise in den quantifizierenden Diskurs einbringen;
    > kritischer Blick auf Prozesse der Datenkonstruktion – welche sozialen und soziotechnischen Prozesse haben Daten mitgeformt statt objektiv abgebildet zu werden?

Herausforderung: Methoden- und Informatikwissen tendenziell ausbauen, ohne allerdings zur reinen ‘sozialen Physik’ (Pentland) zu verkommen.
Beispiel: Der Lucerne Master in Computational Social Sciences, der seit Herbst 2019 an der Universität Luzern angeboten wird.

 

(3) Aktuelle Forschungsfragen

Methoden:
Methodische Fragen und Probleme in verschiedenen Disziplinen, beispielsweise empirische Sozialforschung:

  • wie fehlende/mangelnde Kausalität oder Inferenz von Big Data
  • neue Modi der Datenerhebung (Apps)
  • «text as data» als methodische Herausforderung aufgrund der interpretativen Offenheit, die bestehen bleibt bei Verfahren computergestützter Textanalyse

Algorithmen:
In den letzten 2 bis 3 Jahren ist die Aufmerksamkeit für Algorithmen stark gestiegen, insbesondere Fairness-, Accountability- und Transparency-Aspekte werden vermehrt erforscht/thematisiert.

 

(4) Hands-On!

 Daten

Open-Data-Repositorien:

 

Social Media:

 

Sonst im Netz:

 

Werkzeuge

  • R ist heute für statistische Auswertungen die gängige Programmiersprache
    > R-Studio als Programmier-Umgebung
    > Es gibt gute Packages für Visualisierungen der Auswertungen (ggplot2) und auch Textanalyse
    > Heute wird Statistik an der Uni mit R gelehrt und gelernt
  • Python ist heute unter Data Scientists die verbreitetste Programmiersprache

 

In einem ersten Schritt: Mitreden können in den spezifischen Programmiersprachen-Communities ist der erste und wichtigste Schritt!

Auf diesem Grundstock kann man dann für spezifische Interessen und Projekte sein Wissen vertiefen und Packages nach seinen Bedürfnissen suchen.

r-python

Wichtig zudem:

 

Wie einsteigen?

Matt Salganik (2018): Bit by Bit. Social Science Research in the Digital Age. Princeton: Princeton University Press.
https://www.bitbybitbook.com/

Etwas theoretischer:

Noortje Marres (2017): Digital Sociology. The Reinvention of Social Research. Cambridge: Polity.
http://noortjemarres.net/index.php/books/

Landwirtschaft 4.0? Senden fehlgeschlagen.

 

Blumige Wiesen, die Getreidehalme beugen sich im sanften Wind, Glockengebimmel. Heile Welt im Sempacherseegebiet. Die Kuh blickt mich erstaunt an, während sie gerade ihre letzte Mahlzeit wiederkäut. Ich blicke erstaunt zurück: Wie kann es sein, dass wir, benebelt vom heile-Welt-Alpabzug-Romantik-Bild, kaum merken, dass die Landwirtschaft eine derjenigen Branchen ist, die technologisch gerade einen rasanten Wandel durchmachen?

Wir brauchen die Bäuerinnen und Bauern. Sie sind ein wichtiger Schlüssel für einen nachhaltig bewirtschafteten Planeten und die Pflege der natürlichen Ressourcen. Sind unsere Bäuerinnen und Bauern auf die Zukunft vorbereitet? Oder treffender gefragt: Auf das Jetzt, wenn es darum geht, die technologischen Möglichkeiten zu nutzen: Für eine ökologischere Landwirtschaft, weil intelligentere Systeme Pflanzenschutzmittel schonender spritzen; für mehr regionale Wertschöpfung, weil die Produktionskreisläufe lokal organisiert sind; für mehr Selbstbestimmung, weil die Betriebe ihre Daten selber kontrollieren und nutzen können, um die Produktion effizienter zu machen (siehe auch die Charta zur Digitalisierung der Land- und Ernährungswirtschaft). Dies sind nur drei Beispiele, wie Technologie die Luzerner Landwirtschaft zum Positiven verändern könnte. Frag mal deine Bäuerin, deinen Bauern des Vertrauens: Sind sie darauf vorbereitet?

Ich gehe davon aus, die Antworten würden sehr unterschiedlich ausfallen. Wie immer: Es gibt die technologieaffine Avantgarde. Und den grossen Rest. Auf lange Sicht wird sich kein Bauer der technologischen Entwicklung verweigern können. Und es ist die Selbstverantwortung der Berufsleute, ihr Handwerk weiterzuentwickeln. Sie organisieren sich in Branchenverbänden, prägen ihre Ausbildung mit, suchen die Kooperation mit der Wissenschaft. Ein vorausschauender Kanton würde dies antizipieren und den Bauernstand in dieser Transformation unterstützen. Weil die lokale Landwirtschaft dadurch ökologischer, die regionale Wertschöpfung besser und die Bäuerinnen selbstbestimmter werden. Leider ist der Kanton Luzern hierbei nicht vorausschauend.

Die „Strategie Agrarpolitik Kanton Luzern“ von 2018 erwähnt die Digitalisierung gerade mal in einem kurzen Abschnitt der Umfeld-Analyse. Massnahmen schlägt der Bericht zuhauf vor, 39 – keine davon bezieht sich auf „Chancen der Digitalisierung“. Ganz anders der Kanton Waadt. Dieser plant gemäss seiner Digitalstrategie folgende Massnahme: „Die Waadtländer Landwirtschaft auf Veränderungen (…) im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Agrarsektors vorbereiten“.

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Wieso antizipiert der Kanton Waadt die Digitalisierung in der Landwirtschaft viel stärker als Luzern? Die einfache Antwort lautet: Seine Digitalstrategie hat einen umfassenden Anspruch. Sie beschränkt sich nicht auf die Digitalisierung der verwaltungsinternen Prozesse – E-Government -, sondern öffnet den Blick auf Entwicklungen in ganz verschiedenen Bereichen, in denen Digitalisierung eine Rolle spielt, beispielsweise Mobilität, Bildung, Wirtschaft. Den Themen liegen fünf Perspektiven quer, die das Gerüst der Strategie sind: Daten, Infrastrukturen und Sicherheit, Begleitung von Menschen, Begleitung von Unternehmen und Governance. Eine Auswahl weiterer Ideen aus der Strategie: digitale Zugänglichkeit von kantonalen Museen und Bibliotheken, die Polizei für die Anliegen der digitalen Gesellschaft schulen, Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Online-Medien schulen, digitale Kompetenzen in RAV-Weiterbildungen stärken, eine Austauschplattform mit Unternehmen zur Bekämpfung von Internetkriminalität, attraktive kantonale Arbeitsbedingungen für Digital Natives, eine öffentliche Datenpolitik einführen – und einen für alle zugänglichen Service public fördern, einschliesslich der nicht-digitalen Form. Eine Digitalstrategie also, die bewusst sagt: Die Verwaltungsdienstleistungen müssen auch in nicht digitaler Form zugänglich bleiben.

Was will der Kanton Luzern? Nun, wie wir wissen, hat er sich erst gerade entschlossen, eine „Digitalisierungsstrategie“ zu erarbeiten. Während sie auf die institutionellen Träger eingeht, bleibt die Motion schwammig über die thematische Breite, welche diese Strategie fassen soll. Immerhin fordert sie eine zentrale Koordinationsstelle (Chief Digital Officer) und eine regelmässige Berichterstattung über die Fortschritte. In seinem ursprünglichen „Gegenvorschlag“ postulierte der Kanton, dass lediglich die E-Government-Strategie weiterentwickelt werden soll, man sich aber weiterhin an den Zielen der schweizerischen E-Government-Strategie orientieren möchte: Kunden- und dienstleistungsorientierte Verwaltung, Prozessoptimierung, Voraussetzungen schaffen (organisatorisch, finanziell, rechtlich, technisch). Von den Menschen im Kanton keine Rede.

Die Diskrepanz zum Waadtländer Vorschlag ist frappant. Nun mag man einwenden, dass die Romands halt über ein anderes, viel interventionistischeres Staatsverständnis verfügten, und dass zu viel staatliche Einmischung wenig Sinn mache. Der Blick auf andere Kantone zeigt aber, dass der Waadtländer Ansatz kein Ausreisser ist, sondern viele andere dieselbe Richtung einschlagen: Der Kanton Aargau will seine Personalstrategie aus der Digitalstrategie ableiten; Graubünden fördert Unternehmen und öffentliche Institutionen, welche die digitale Transformation unterstützen; Glarus installiert ein „Sounding Board“ und bezieht dabei die Jugend und Avenir Suisse ein; der Kanton Genf erarbeitete seine Strategie partizipativ, er will damit auch neue Geschäftsfelder und -modelle in der Wirtschaft antizipieren; sogar die Konferenz der Kantonsregierungen empfiehlt in ihren Leitlinien: Datenhoheit und Aufklärung der Bevölkerung sowie deren Partizipation in der Politikgestaltung sind erstrebenswert. Der Bund hat schon seit einigen Jahren eine umfassende „Digitale Strategie“ mit einem Aktionsplan für verschiedene Themenbereiche. Und über die Schweiz hinaus nur ein Beispiel: Die Stadt Wien führte mit der „Digitalen Agenda“ eine Partizipationsprojekt durch, das 1.8 Millionen Rückmeldungen generierte.

Nun ja – im ganzen Kanton gibt es nicht mal so viele Menschen. Und Schweine. Zusammengezählt. Eine Schuhnummer kleiner ist also völlig in Ordnung. Aber die Luzerner Digitalstrategie soll kein verwaltungsinternes Projekt bleiben. Sie soll einem vernetzenden Ansatz folgen und Ziele und Massnahmen im Zusammenspiel mit privaten und öffentlichen Akteurinnen und Organisationen entwickeln. Sie soll die Rolle von Daten und digitalen Prozessen, ihre Nutzung und ihren Schutz beleuchten, weil dies neue Geschäftsmodelle ermöglicht und gleichzeitig unsere persönlichen Grundrechte betritt. Sie soll wirtschaftliche und soziodemografische Entwicklungen antizipieren und sie prägen, weil das die Raumplanung und die kantonalen Steuereinnahmen beeinflusst. Sie soll die Menschen und Unternehmen im Kanton Luzern – zum Beispiel der Bäuerin oder dem Bauern deines Vertrauens – unterstützen, damit diese sich den technologischen Wandel zunutze machen können.

Deshalb habe ich im Kantonsrat eine umfassende Digitalstrategie für den Kanton Luzern gefordert.

Es braucht mich, als Vorbild und Feministin

„So einfach ist das nicht.“ entgegnete ich.

Lange machte ich es mir einfach. Nicht bewusst – ich hatte einfach nie diese andere, selten sichtbare Realität kennengelernt. Diese Realität, in der Frauen mehr und höhere Hindernisse überwinden müssen als Männer. Diese Realität, in der es gläserne Decken und klebrige Böden gibt.

Ich wuchs auf dem Bauernhof auf, zusammen mit zwei Brüdern, meinen Eltern und meiner Tante. Arbeit gab es genug und sie wurde verteilt auf die drei Erwachsenen. Meine Mutter und meine Tante halfen viel mit im Stall und im Garten. Kleine Hilfsaufgaben für uns Kinder wurden immer pingelig genau gedrittelt und gleichmässig verteilt. (Die Einteilung des zu wischenden Vorplatzes ergab ungleich grosse Flächen – weswegen wir ein Rotationssystem befolgten.) Alle drei Kinder wuschen ab, alle mähten den Rasen. Alle erhielten den gleichen Festtags-Dino-Pulli.  Wir mochten alle drei Lego. Einige Jahre später spielten wir Computer-Games (natürlich dieselben: Caesar, Age of Empires 2, Anstoss 3) abwechselnd vor dem Bildschirm – und natürlich achteten wir genau darauf, dass die Zeiten in etwa ausgeglichen waren (okay, manchmal brauchte es Mamas Machtwort).

Ich mochte keine Pferde. Ich verabscheute klitzekleinste Resten von rosa oder Glitzer auf Kleidern. Mit einer geschenkten Barbie spielte ich ein einziges Mal, dann landete sie in einer Kiste unter dem Schrank. Zwischen 3 und 24 Jahren trug ich nie einen Rock. Das, was andere Mädchen an Kleidung und Hobbys mochten, das fand ich doof: Ich war ein Mädchen, ja, aber wieso sollte ich nun rosa, Barbie und Pferde mögen? Dieses Einteilen von Vorlieben und Verhaltensweisen nach Geschlechtern leuchtete mir nicht ein. Ich ging meinen Weg in der Schule, in den Beruf (KV), ins Studium (Sozialwissenschaften) – die Türen öffneten sich, wenn ich interessiert war und die nötige Kompetenz bewies. Es gab den Menschen Rahel, der seinen Weg ging, und um ihn herum waren andere Menschen, die ihren Weg gingen, gemäss ihren Wünschen und Vorstellungen. Mein Leben, die gelebte und hiermit erwiese Gleichberechtigung. Feminismus betrachtete ich als Kampfbegriff aus den Siebzigern. Wie schön und einfach meine damalige Welt war.

Und wie naiv. Über die Jahre des fortschreitenden Studiums, der ersten Erfahrungen in der Politik, der gesellschaftlichen Debatte (#metoo) und der intensiven Diskussionen mit Freund*innen (ja, du!) leuchteten immer mehr Lämpchen: Es gibt Dinge, die uns – allen Menschen – Türen öffnen oder im Wege stehen, aber nicht sichtbar werden. Die uns anleiten, ganz unbewusst unsere Vorstellungen und Rollenbilder prägen. Das gilt auch für das Geschlecht. Manches gibt uns die Biologie vor (englisch: „Sex“), aber das meiste die Rolle in der Gesellschaft (englisch: „Gender“). Mein Studium und meine Forschung befass(t)en sich ganz stark mit sozialen Strukturen, und eine Perspektive auf solche Strukturen kann diejenige der Geschlechter sein. Ich erinnere mich noch, wie ich mich gerade zu Beginn des Studiums eher langweilte: Es leuchtete mir in meiner schön einfachen und gleichberechtigten Welt nicht ein, wieso man Fragestellungen der internationalen Entwicklungsarbeit auch noch aus der Geschlechter-Perspektive untersuchen sollte. Heute arbeite ich in meiner Forschung nicht mit Gender-Ansätzen – aber wenn ich auf mein Untersuchungsfeld der Digitaltechnologien blicke und zu einer überwältigenden Mehrheit Männer sehe, dann ist mir bewusst: Es gibt starke geschlechterspezifische Rollenbilder und sie haben einen massiven Einfluss auf die Gesellschaft.

Anschauungsunterricht im Parlament

Wenn ich auf meinem Sitz im Luzerner Parlament hocke und ins Parlament blicke, ist das Anschauungsunterricht: Auf eine (weibliche) Parlamentarierin kommen drei (männliche) Parlamentarier. Auf fünf Regierungsräte kommt – keine Frau. Nur das assistierende Personal der Staatskanzlei ist überwiegend weiblich. Natürlich mit Ausnahme ihres Chefs, des Staatsschreibers. Ich merke, wie die Geschlechter-Frage für mich an Bedeutung gewonnen hat, seit ich Teil des Parlaments bin. Prägnante und sehr angriffige Voten erlebe ich öfters von Männern – und dass wenn sie von Frauen kommen, diese Politikerinnen dann viel kritischer hinterfragt werden (als die ebenso angriffigen Politiker). Im politischen Betrieb zählt klare Argumentation, ein griffiges Statement und das Zitat in der Presse – wenig Platz für meine gedanklichen Differenzierungen und deliberativen Problemerörterungen. Wenig Platz für Eigenschaften, die eher Frauen zugeschrieben werden: Unsicherheit, kritisches Hinterfragen der eigenen Fähigkeiten, Empathie.

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Kurz nach meiner Vereidigung: 5 Regierungsräte applaudieren. (Foto: Hannes Koch/Grüne)

Besonders akzentuieren sich die Geschlechterunterschiede jeweils bei der Suche nach Kandidierenden für die Wahllisten. In allen Parteien ist es ein grosses Thema: Wie überzeugt man Frauen, zu kandidieren? Egal ob Frau oder Mann: Wer für ein politisches Amt kandidiert, hat hohe Ansprüche an sich selbst – aber vor allem Frauen haben dann meist das Gefühl, dass es ein Problem würde, sollten sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden können. Männer tun’s einfach mal. Für die Kandidierenden der Grünen boten wir vor einigen Wochen einen Workshop zum persönlichen Auftreten an. Angemeldet hatten sich schliesslich neun Frauen und ein Mann – es soll niemand sagen, es seien nicht grundsätzlich Frauen, die sich mehr Gedanken um den eigenen Auftritt machen. Beziehungsweise machen müssen: Sie werden von der Öffentlichkeit nämlich viel kritischer beäugt und beurteilt.

Es gibt noch eine Menge anderer, unsichtbarer Hindernisse für Frauen in Gesellschaft und Politik: Netzwerke, die von Männern dominiert sind (Zünfte sind hier nur das extremste Beispiel) und die so funktionieren, dass Posten und Unterstützung unter ihren Mitgliedern vergeben werden. Oder ganz banal: Noch immer sind 90 % der Wikipedia-Autor*innen Männer und dementsprechend 85 % der Biografien auf der Plattform über Männer – damit auch Frauen Bedeutung und eine Existenz im digitalen Raum erhalten, organisiert die Wirtschaftsjournalistin Patrizia Laeri die Aktion „Frauen für Wikipedia“. „Kind oder Karriere“ gilt im Luzerner Parlament: Familienuntaugliche Sessions- und Sitzungszeiten, die hauptsächlich Frauen treffen, solange immer noch Mütter den grösseren Anteil an Kinderbetreuung übernehmen. Fehlende Regelungen für Mutterschaftsurlaub (und vielleicht künftig auch Vaterschaftsurlaub) im Parlament – der Sitz bleibt einfach leer. Oder man paart sich bevorzugt Ende September, damit der Geburtstermin auf den Beginn der Sommerpause fällt.

Fünf Pizzen für eine Frauen-Kandidatur

Mein Bewusstsein für Geschlechterfragen hat sich in den letzten Monaten, in denen ich mich in Politik und Wissenschaft in vermehrt männerdominierten Bereichen betätigte, geschärft. Erfreulicherweise bewegt das Thema auch die Medien: zentralplus und die Sempacher Woche identifizieren mich als „weibliches Vorbild“ und fragen: Wieso so wenig Frauen? 041 – Das Kulturmagazin versammelt fünf Frauen aus fünf Parteien am runden Tisch, um die Rolle der Frauen zu ergründen – und das beste an der Frauenrunde liest sich nicht im Magazin. Nämlich das wir fünf noch Stunden hätten weiterdiskutieren können, weil wir so häufig mit ähnlichen Situationen konfrontiert sind (aber nicht immer gleich damit umgehen). Wer hätte gedacht, das man in der CVP fünf Pizza-Zmittage investiert, um eine Frau zu einer Kandidatur zu überzeugen? Und wir versuchen, im Parlament etwas zu bewegen: Dank einem überparteilichen Vorstoss wird in den Wahlunterlagen auf die Untervertretung von Frauen hingewiesen. Zudem habe ich mit Melanie Setz zusammen das Thema Stellvertretungsregelung für Parlamentarier*innen auf die Agenda gesetzt.

Was der Rest des Parlaments dazu meint, wird sich zeigen. Und: Sollte der Frauenanteil im Luzerner Parlament demnächst steigen, so ist zu hoffen, dass sich dieses für Frauen nicht als „klebriger Boden“ herausstellt und der Sprung auf nächsthöhere Stufen – Fraktions- und Kommissionspräsidien, der Regierungsrat – gelingt und sie ihren Kopf nicht an gläsernen Decken stossen. Es braucht Frauen, die vorangehen und sich nicht scheuen – aber vor allem auch veränderte Strukturen. Diese Veränderungen werden passieren. Die Frage ist nur, wie lange es dauert.

Als SVP-Präsidentin Angela Lüthold – die übrigens bezüglich der Übernahme von Verantwortung ein tolles weibliches Vorbild ist – in der Frauenrunde des Kulturmagazins vor einigen Wochen meinte, dass Frauen, die in die Politik möchten, grundsätzlich alle Möglichkeiten offen stünden, wurde mir bewusst, wie stark sich mein Bewusstsein für die Bedeutung der Geschlechterrollen in den letzten Jahren verändert hat. Vor gut zehn Jahren hätte ich ihr zugestimmt. Nun verabschiedete ich in diesem Moment das gleichberechtigte Vorplatz-Wischen mit meinen Brüdern, unsere drei identischen Dino-Pullis, die Illusion der Welt ohne Geschlechterrollen – und akzeptierte, mich fortan (auch) als Feministin zu sehen. Ich entgegnete Angela Lüthold: „So einfach ist das nicht.“

Wir können und sollen für Frauen die unsichtbaren Hindernisse abbauen und Türen öffnen, möglichst bald. Für Vielfalt und Gleichberechtigung. Es braucht den Frauentag wohl noch lange. So wie auch mich als Politikerinnen-Vorbild. Und als Feministin.

Böser Algorithmus, guter Algorithmus – wie leben damit?

Böser Algorithmus, guter Algorithmus. Wie leben damit?

Diese Frage stellen wir uns in der Arbeitsgruppe Netzpolitik der Grünen Schweiz sehr oft. Entscheidungen werden uns zunehmend von automatisierten Entscheidungsverfahren (Algorithmen) abgenommen. Ganz gleich, ob es um die nächste Mahlzeit geht oder um eine Gefahreneinschätzung unserer Person vor Gericht: Die Entscheide sind an Kategorisierungen und Berechnungen von Maschinen gebunden.

Die Fragen können wir in zwei Dimensionen aufteilen:

  • Die private Seite: Wie können wir lernen und verstehen, wie Algorithmen funktionieren – und ihre Ergebnisse kritisch entgegennehmen? Welches Wissen, welche Informationen und welche Fähigkeiten braucht es dazu?
  • Die gesellschaftliche Seite: In welchen Situationen sollen Algorithmen kritisch begutachtet werden? Welche Bereiche sind zu sensibel, um sie von Maschinen gestalten zu lassen? Wann braucht es Transparenz und Regulation? Mit welchen Mitteln sollen Algorithmen reguliert werden – Gesetze, Zertifizierung, zivilgesellschaftlicher Protest?

Einfache Antworten gibt es nicht. Und gerade deshalb interessierte uns, diese Frage mit vielen Interessierten aus dem Bereich Netzpolitik zu erörtern. Das geeignete Mittel dazu: Im Rahmen des Winterkongress 2019 der Digitalen Gesellschaft organisierten Markus Schmidt und ich im Namen der AG Netzpolitik der Grünen einen Workshop zum Thema.

Die Fragen interessieren und bewegen: Über 70 Personen diskutierten mit uns. Wir unterteilten in Arbeitsgruppen, die je einen Aspekt zum Thema Algorithmen anhand eines Textes diskutierten.

  1. Mit welchem Daten-Input sollen Algorithmen trainiert werden?
    https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2018/august/wider-die-digitale-manipulation (Abschnitt 7)
  1. Wieviel Transparenz und Kontrolle benötigen selbstlernende Algorithmen?
    https://www.wired.de/article/ubernehmt-endlich-verantwortung-fur-eure-algorithmen
  1. Wo darf der Staat Algorithmen einsetzen und wie muss er sie regulieren?
    https://www.republik.ch/2018/09/19/die-tyrannei-des-wahrscheinlichen-in-der-justiz
  1. Wie sich gegen Algorithmen wehren?
    https://www.medienpolitik.net/2017/08/netzpolitikwir-sind-nicht-hilflos/
  1. Können Algorithmen diskriminieren?
    https://verfassungsblog.de/koennen-algorithmen-diskriminieren/
  1. Wie in der Schule auf Algorithmen vorbereiten?
    https://www.nzz.ch/feuilleton/soll-der-mensch-wie-ein-computer-denken-ld.1292090
  1. Algorithmen anstelle von Vertrauen? China und der Social Credit
    https://www.zeit.de/2019/03/china-regime-ueberwachungsstaat-buerger-kontrolle-polizei
  1. Wirtschaft: Wenn der Algorithmus Preisabsprachen macht
    https://www.nzz.ch/wirtschaft/wenn-algorithmen-kartelle-bilden-ld.1415028

Anschauungsbeispiel: Erfolgreich gegen den Algorithmus gewehrt!

Angeregte Diskussionen in den Arbeitsgruppen folgten. Zum Schluss standen die Gruppen vor der Herausforderung, ein Fazit in Tweet-Länge zu fassen. Und: Die oder der Präsentator*in des Fazits bestimmte ein (vorerst intransparenter) Algorithmus. Im Sinne von der Forderung nach transparenten Algorithmen liessen wir das Rätsel nicht ungelöst: Diejenige Person mit dem „vordersten“ Buchstaben (gemäss Alphabet) an dritter Stelle des Vornamens war auserwählt. In einem Fall von zwei identischen Vornamen diskriminierte der Algorithmus nach Lust und Laune – wie im Leben halt. Im Sinne von „Wehr dich gegen den intransparenten Algorithmus!“ setzte die auserwählte Person aus der Arbeitsgruppe 4 das Thema gleich um und wehrte sich gegen die Präsentation – erfolgreich. Mit menschlicher Kompetenz fand die Gruppe einen anderen Präsentator.

Herzlichen Dank allen, die diskutiert haben! Wir freuen uns, mit euch viele weitere Debatten in Politik und Gesellschaft zum Thema Algorithmen zu führen.

Hier die Tweet-Fazite, die wir sogleich auf Twitter und Mastodon teilten (rangiert nach dem Beliebtheitsalgorithmus von Twitter):

Lokaljournalismus: für eine Zukunft des Vertrauensstifters

Wie einfach ist es, sich über Lokaljournalismus lustig zu machen. Über den langweiligen Bericht zum Theaterabend. Über die banale Kolumne der Lokalpolitikerin zum geplanten Schulhausneubau. Über das mit WordArt gestaltete Inserat, das zum Kerzenziehen der lokalen Pfarrei einlädt.

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Aber läge da eigentlich nicht viel mehr drin? Doch. Lokaljournalismus kann spannend sein. Eben so spannend, wie es unser lokales Leben ist. Jedes Quartier mit seinen Persönlichkeiten, jedes Dorf mit seinen Schulen und Vereinen, jede Region mit ihren Unternehmen schreibt kleine, aufregende, erstaunliche, aussergewöhnliche Geschichten. Wer hätte gedacht, dass die globale Welle #metoo das Architektur-Departement der ETH Zürich umkrempelt? Tsüri.ch, Zürcher Lokaljournalismus, hat die Geschichte erzählt. Die Macher*innen schreiben über sich: „Wir sehen die guten Geschichten überall: auf der Strasse, im Fluss, auf der Wiese, in den Köpfen, auf den Gesichtern, zwischen den Gleisen und zwischen den Fronten.“

Lokaljournalismus ist relevant. Derzeit lese ich lokale und regionale Berichterstattung vor allem deshalb, weil ich mich in der Lokalpolitik bewege. Ich muss wissen, was berichtet wird. Wäre es nicht toll, genau diese Berichterstattung wäre vielfältig, multimedial, präsent, in aller Munde statt nur in jenen der Lokalpolitiker*innen? Das wäre nicht nur toll, sondern absolut notwendig. Weil Politik im Lokalen beginnt. Besonders in unserer direkten Demokratie: Was an Gemeindeversammlungen, in Stadtparlamenten, Kommissionen und Kantonsregierungen diskutiert und beschlossen wird, das benötigt ein Korrektiv der vierten Gewalt. Und wenn wir zur Urne gebeten werden, über Schulhäuser, Zonenpläne, Lokalspitäler entscheiden, Kommunal- und Kantonalpolitiker*innen wählen – dann benötigen wir Informationen darüber. Aus verschiedenen Perspektiven, nicht nur die offizielle Info-Broschüre.

Lokaljournalismus kann aber mehr als Politik. Der deutsche Journalist und Aktivist Lorenz Matzat schreibt in einem Blogbeitrag:

Und selbstverständlich sorgt ein lokales Medium als Identitätsbinder, der den Charakter eines Ortes oder Region nach innen wie nach außen widerspiegelt. Beides — kritische Lokalberichterstattung und Identitätsspiegel — sind wesentlich Bestandteil einer funktionierenden Gesellschaft.

Lokaler Journalismus schafft Communities wie diejenige des Radio 3fach: Ein lebendiges Kultur-Biotop in und um Luzern, seit 20 Jahren jung und immer noch unverbraucht. Lokaler Journalismus nimmt eine wichtige Rolle ein, wie wir uns als Quartier, Dorf, Stadt, Region bilden und sehen. Er schafft Nähe und ermöglicht uns erst, gegenseitig zu vertrauen.

Klingt eigentlich nach einer faszinierenden Tätigkeit. Trotzdem flüchten fast alle Lokaljournalist*innen zu einem grösseren, meist nationalen Medium, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Kaum verwunderlich, wenn der eigene Arbeitsplatz permanent vom Abbau bedroht ist, wenn online die Möglichkeiten für Innovation über den reinen Text hinaus fehlen und die gedruckte Zeitung immer weniger gekauft wird. Diese Entwicklungen betreffen nicht nur Lokaljournalismus, wie Journalistin und MAZ-Studienleiterin Alexandra Stark in ihrem Plädoyer „Der Journalismus braucht eine Lobby!“ beschreibt. Aber sie zeigen sich im Lokaljournalismus akzentuiert. Deshalb sind es zuerst die Lokalmedien, die verschwinden, und nicht die grösseren, nationalen Player.

Sollen also die Quartiere, Dörfer, Städte, Regionen in der kleinräumigen Schweiz weiterhin funktionieren, so benötigt vor allem der Lokaljournalismus mehr Lobby – oder überhaupt eine. Es geht derzeit ans Eingemachte. Die Politik versucht es mit Appellen und Überzeugungsarbeit in den Entscheidungsgremien der Verlagshäuser, die inzwischen weit weg von der Lokalpolitik tagen. Und vor allem eines wollen: Weiterhin irgendwie Geld verdienen. Da das mit Lokaljournalismus schlecht funktioniert, ist nicht viel zu erwarten von den privaten Verlagshäusern.

Statt uns auf verlorenem Posten in den verlegerischen Kleinkrieg um die Werbeeinnahmen-Brosamen zu begeben, sollten wir uns anderen Möglichkeiten zuwenden. Es gibt sie. Fehlendes Know-How und fehlende Infrastruktur lassen sich gemeinnützig finanzieren – teilweise durch die öffentliche Hand aufgrund gewisser Kriterien, teilweise durch Trägerschaften von dir und mir direkt. Es braucht eine Ausweitung der öffentlichen Förderung auf lokale Medien – egal ob online oder Papier oder Radio oder Fernsehen – sofern sie im öffentlichen Interesse berichten. Solange der Bund (mangels erneuertem Mediengesetz) nichts tut – warum ergreifen nicht die Kantone und Gemeinden die Initiative? In Genf bezahlt ein Verbund von Gemeinden einen Reporter, der lokale Themen abdeckt.

Projekte wie WePublish sind vielversprechend, weil sie die Frage, warum eigentlich jedes mittlere, kleine, Kleinst-Medium viele Ressourcen in ein eigenes CMS, eigene Nutzungsdatenauswertung und eigene Online-Distributionskanäle investiert, mit einer gemeinsamen Open-Source-Plattform beantworten. Teilen, was sowieso alle brauchen, um im heutigen Wettrennen um die Aufmerksamkeit (ein wenig) mithalten zu können. Und dann auf dieser Plattform die eigene Marke aufbauen – das alleine verlangt schon viele Ressourcen. Ob WePublish zum Fliegen kommt? Man wird sehen, ich wünsche es mir. Viele andere wie media FORTI auch.

Fast 150 „Local News Reporters“ konnten bei lokalen Medien mit der Unterstützung der BBC angestellt werden.

Befreit vom erwähnten Kleinkrieg der Verlage öffnet sich noch eine weitere Perspektive. Es gibt nämlich in der Schweiz schon eine (hauptsächlich) gemeinnützig finanzierte Plattform, die über hervorragende Infrastruktur und viel journalistisches Know-How verfügt. Die SRG. Es spricht wenig dagegen, dieses Potenzial zu nutzen. So wie es beispielsweise Grossbritannien tut. Dort hat die BBC vor über eineinhalb Jahren begonnen, die „Local News Partnership“ aufzubauen. Unter Erfüllung einiger Kriterien haben sich über 700 lokale Partner zusammengefunden, um Audio- und Video-Material der BBC zu nutzen. Um digitale Daten gemeinsam auszuwerten und Geschichten daraus zu erzählen. Und vor allem: Fast 150 „Local News Reporters“ konnten bei lokalen Medien mit der Unterstützung der BBC angestellt werden.

Wie ein kürzlicher Bericht der New York Times über das BBC-Projekt richtig festhält: Das ist nicht mehr als ein erster Verband über die klaffende Wunde des Lokaljournalismus. Aber mindestens blutet der Patient vorläufig nicht aus.

Kurz-Interview: Was tut unser Forschungsprojekt?

Das Dach meines Forschungsprojekts („Facing Big Data: Methods and skills needed for a 21st centruy sociology“), das NFP75, hat nun eine Dialogplattform. Dort habe ich für einige Fragen Red und Antwort gestanden. Du findest eine Kopie des Interviews untenstehend.

Und: Du kannst dich mit deinen Fragen zu Big Data nun aus der Deckung wagen. Die Dialogplattform verfügt über ein einfaches Online-Formular und verspricht, auf alle Fragen fundierte Antworten einer Expertin oder eines Experten zu suchen. Loslegen!


12. November 2018

Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Projekt, und was haben Sie bereits realisiert?

Rahel Estermann: Das Projekt untersucht den digitalen Wandel in den drei Feldern Soziologie, Datenjournalismus und Data Science im Hinblick auf die dort genutzten und notwendigen Methoden, Fähigkeiten und analytischen Werkzeuge und zeichnet den aktuellen Stand und Entwicklungslinien auf.

In allen drei Teilprojekten, die sich mit je einem der drei genannten Feldern beschäftigen, läuft die Erhebung von Daten, erste Analysen wurden durchgeführt. Alle drei Projekte kombinieren verschiedene Methoden, seien sie quantitativ (Sammlung und Analyse von Job-Inseraten oder Lehrplänen, text- und netzwerkanalytische Auswertungen) oder qualitativ (Interviews, ethnografische Feldbeobachtung, Dokumentenanalyse). In einem iterativen Prozess werden Erkenntnisse aus dem Feld mit theoretischen Angeboten abgeglichen und gedeutet – um danach weitere Schritte im Untersuchungsfeld zu planen.

Alle Forschenden präsentieren ihren aktuellen Stand des Projekts immer wieder durch Vorträge im Rahmen von Konferenzen, teilweise auch bereits in Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften.

«Big Data» ist nicht einfach ein technisches Phänomen, sondern erweitert die Möglichkeiten, wie wir die Welt sehen und Wissen darüber gewinnen können.

Worauf sind Sie und Ihr Team besonders stolz?

Rahel Estermann: Wir thematisieren als eines der wenigen Projekte im Rahmen des NFP75 grosse Datenmengen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. «Big Data» ist nicht einfach ein technisches Phänomen, sondern erweitert die Möglichkeiten, wie wir die Welt sehen und Wissen darüber gewinnen können. Wir sind stolz darauf, dass der SNF uns darin unterstützt, die Methoden, Fähigkeiten und Werkzeuge zu erforschen, die in verschiedenen Feldern im Zusammenhang mit «Big Data» angewendet werden – und dass diverse Wissenschaftler*innen wie auch Journalist*innen uns in den Einzelprojekten unterstützen, indem sie uns Zugang zu ihrem Arbeitsalltag gewähren. Der Vergleich über verschiedene Felder ermöglicht uns immer wieder, übergreifende Muster bzw. Spezifitäten zu erkennen und zu diskutieren.

Welche Veränderungen bewirkt Ihr Projekt?

Rahel Estermann: Unser vertiefter Blick auf die neuen Chancen und Herausforderungen, vor denen Soziologie, Datenjournalismus und Data Science durch die Verfügbarkeit grosser Datenmengen stehen, liefert nicht nur Erkenntnisse dazu, wie die Digitalisierung Prozesse der Wissensgenerierung verändert, sondern begleitet diese Veränderungen zudem kritisch. Unsere Gesellschaft braucht nicht nur Wissen über jene soziotechnischen Veränderungen, die wir Digitalisierung nennen, sondern auch eine kritische Überprüfung jener, die diese Prozesse mit «digitalen Methoden» erklären und mitgestalten. Von welchen (mal mehr mal weniger) neuen Methoden, Fähigkeiten und Werkzeugen unserer drei Felder können auch andere gesellschaftliche und wissenschaftliche Bereiche profitieren? Welche Praktiken und Konventionen gilt es jedoch auch kritisch auf ihre Sensibilität bezüglich der sozialen Konstruktion von «Big Data» und Co. zu überprüfen? Dank unseren Erkenntnissen können wissenschaftliche und gesellschaftliche Felder ihre methodischen Zugänge überprüfen und erneuern und Lernenden entsprechende Fähigkeiten vermitteln.

Dank unserem NFP75-Forschungsprojekt habe ich die Gelegenheit, meiner Neugier über die Zusammenhänge zwischen Gesellschaft, Technologie und Medien über mehrere Jahre freien Lauf zu lassen – ein Privileg!

 

Was bedeutet das NFP 75 für Sie?

Rahel Estermann: Dank unserem NFP75-Forschungsprojekt habe ich die Gelegenheit, meiner Neugier über die Zusammenhänge zwischen Gesellschaft, Technologie und Medien über mehrere Jahre freien Lauf zu lassen – ein Privileg! Ich verfüge über die Zeit, sehr aktuellen und relevanten Phänomenen auf den Grund zu gehen, meine Hypothesen immer wieder an Theorien und Erkenntnissen zu überprüfen und zu überarbeiten. Der Austausch mit den über dreissig anderen Projekten und ihrer Forschung bedeutet einen Wissensvorrat, den wir mittels Austausch und Diskussionen immer wieder nützen. So kommen verschiedenste Perspektiven auf das Phänomen «Big Data» zusammen – horizonterweiternd!

Was würde fehlen, wenn es Ihr Projekt nicht gäbe?

Rahel Estermann: Wir beleuchten «Big Data» von einer anderen Seite als viele technische und naturwissenschaftliche Projekte. Daten sind aus unserer Sicht nicht «roh», sondern werden in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontexten erschaffen. Unser Blick in die Konstruktion von Daten und Wissen daraus schärft das Bewusstsein für die grosse Rolle von Methoden und Werkzeugen der Datenverarbeitung. Sie erst ermöglichen die Nutzbarmachung von Daten – das war schon früher so.
Unsere sozialwissenschaftliche Perspektive auf grosse Datenmengen stellt uns deshalb auch immer wieder vor die Frage, ob Digitalisierung wirklich alles neu macht – was verändert sich wirklich? Welche Bereiche unseres Zusammenlebens sind davon betroffen? Und mit welchen Werkzeugen haben wir uns früher Daten zunutze gemacht, und mit welchen heute?