Am 10. April habe ich einen Antrag unterschrieben, damit ich endlich wieder tun kann, wofür mich die Luzerner Bevölkerung vor einem Jahr (wieder-)gewählt hat: meine politischen Ansichten in den Luzerner Kantonsrat einbringen. Trotz Pandemie. [1] Beziehungsweise gerade deswegen.

Die kurzfristige Absage der März-Session war für mich nachvollziehbar. Sie hätte an jenem denkwürdigen Montag gestartet, als der Bundesrat den Shutdown des öffentlichen Lebens verkündete – der Parlamentsbetrieb wäre im Minimum chaotisch und im Maximum gesundheitsgefährdend gewesen.
Die Absage der Mai-Session empfand ich als undemokratischen Affront. Am 31. März hatte die Geschäftsleitung des Kantonsrats dies entschieden, sechs Wochen vor dem Termin. Natürlich, in diesen Tagen waren die gemessenen Ansteckungen auf einem Höhepunkt, die Verunsicherung über die Entwicklung des Coronavirus war (und ist) riesig, wir müssen deshalb alle unsere derzeitigen Planungen stets mit einem Stern versehen: *sofern es die Lage erlaubt. Niemand will tagen, wäre das halbe Parlament krank. Dass man die Session bereits „vorsorglich“ absagte, trotz genügend Zeit zur Vorbereitung und Umsetzung der Distanz-Regelung, verstehe ich nicht. Vor allem zeugt es davon, wie gering man das Parlament und seine Arbeit schätzt.
Diese Geringschätzung stimmt mich besonders nachdenklich, weil wir als Parlament die Bevölkerung und ihre Ansichten repräsentieren und vertreten. Die Pandemie und die Anstrengungen, um sie einzudämmen – die ich für nötig und richtig halte – wälzen unsere Gesellschaft und Wirtschaft um wie nichts mehr seit dem Zweiten Weltkrieg. Unsere Grundrechte werden massiv eingeschränkt, Militär und Zivilschutz mobilisiert, Wirtschaftszweige stillgelegt und Milliarden-Hilfspakete geschnürt. Ich muss das nicht weiter ausführen, wir alle wissen: Was gerade an Veränderungen passiert, ist gigantisch und einschneidend. Sowohl die Massnahmen, mit denen wir die Virus-Verbreitung bekämpfen, wie auch diejenigen, mit denen wir versuchen, die sozialen und wirtschaftlichen Schäden abzufedern, sind Weichenstellungen, die unsere Gesellschaft für die nächsten Jahre prägen. Und bei all dem soll die Bevölkerung aussen vor bleiben? Die direktdemokratischen Instrumente (Unterschriftensammlungen, Versammlungen und Abstimmungen) wurden ausgesetzt – und nun soll auch die repräsentative Vertretung im Parlament ruhen?
Der Einwand liegt auf der Hand: Geben derzeit nicht sowieso die Exekutiven den Takt vor, allen voran natürlich der Bundesrat auf nationaler Ebene, und die Rolle des Luzerner Kantonsrats ist im Moment vernachlässigbar? Dem halte ich zwei Dinge entgegen:
Erstens sind durchaus wichtige Verantwortlichkeiten, die viele Menschen ganz direkt betreffen, auf kantonaler Ebene angesiedelt: Die Kita-Unterstützungsfrage beispielsweise (der Bund hat den Ball den Kantonen zugespielt), allfällige zusätzliche Unterstützung für Unternehmen und Kulturbetriebe (angepasst auf die lokalen Begebenheiten), viele offene Fragen im Bildungsbereich (Abschlussprüfungen und -zeugnisse sowie Übertrittsverfahren, beispielsweise). Und auch gerade im so zentralen Gesundheitswesen hält der Kanton wichtige Hebel in der Hand. Hier braucht es vielleicht Entscheide des Kantonsrates, vielleicht auch nicht – vor allem braucht es die Debatte mit allen politischen Kräften. Auch neben der Pandemie gibt Geschäfte, die bereit sind und schnell erledigt werden sollen: Beispielsweise liegt der Ausbau der Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität bereit.
Zweitens, und hier hüpft mein Herz auf den rechtsstaatlichen Fleck: Nur wenn das Parlament tagt, können wir die Regierung rechenschaftspflichtig halten. Nur dann können wir auf parlamentarischem Weg Fragen stellen und Anliegen einbringen. Das ist (auch) unsere Aufgabe als Legislative: Das Handeln der Regierung kontrollieren und wo nötig und im Rahmen der Kompetenzen legitimieren und korrigieren. Informationen und Rechenschaft einfordern. Und zwar nicht hinter verschlossenen Kommissionstüren, sondern in der Öffentlichkeit. Nur dann spielen die Checks-and-Balances zwischen den Gewalten, die eine Demokratie so erfolgreich machen.
Gerade im Kanton Luzern ist die Kontrollfunktion des Parlaments der Regierung gegenüber besonders bedeutsam, weil eine grosse Minderheit der politischen Kräfte nicht in die Exekutiv-Gewalt eingebunden ist.
Gerade im Kanton Luzern ist die Kontrollfunktion des Parlaments der Regierung gegenüber besonders bedeutsam, weil eine grosse Minderheit der politischen Kräfte nicht in die Exekutiv-Gewalt eingebunden ist. Seit fünf Jahren regieren Bürgerliche. Seit den Wahlen vor einem Jahr beträgt das Missverhältnis 35 % (SP, Grüne, Grünliberale), ein satter Drittel des Parlaments sieht seine parteipolitischen Ansichten in der Regierung nicht vertreten. Das widerspricht der schweizerischen Tradition der Konkordanz (und ist wohl in diesem krassen Missverhältnis in keinem anderen Kanton zu finden, wie ein kurzer Blick auf alle Kantonsregierungen zeigt). Man hätte also etwas demokratisches Gespür von den Regierungsparteien erwarten können – nope.
Richtig irritierend fand ich dann die Reaktion auf unsere Forderung, die Demokratie zu beleben und die Session durchzuführen: Es sei Selbstinszenierung, die Parlamentsarbeit in der Coronakrise „Symbolpolitik“, die Session koste zu viel – und einzelne Exponenten des Freisinns denken sowieso, Parlamentarier*innen seien nur arbeitswillig wegen des Sitzungsgeldes (das wären dann 350 Fr. pro Tag, inklusive Reiseentschädigung). Schade – vor über 150 waren es die Ahnen genau jener Liberalen, die unseren Bundesstaat mit Demokratie und Rechtsstaat begründeten. Glücklicherweise scheinen die grundrechtlichen Geister andernorts wach, auch auf bürgerlicher Seite: So warnte just Ende März Ständerat Andrea Caroni, FDP, vor einem „Anti-Parlamentarismus“ (er meinte damit aber in der Bevölkerung, nicht in der eigenen Partei). Zudem planen viele Kantone, ihre Mai-Session – mit den nötigen örtlichen Anpassungen – durchzuführen. So liess der Kanton Schwyz, ultra-bürgerlich übrigens, stolz verlauten: „Sie [die Leitung des Kantonsrats] will damit ein Zeichen setzen, dass der Kantonsrat auch in der ausserordentlichen Lage funktioniert.“
Damit dies auch für den Kanton Luzern gilt, haben 30 Parlamentarier*innen erfolgreich beantragt, dass die Mai-Session des Kantonsrats stattfindet. Es ist die Parlamentsvertretung, für die wir Kantonsrät*innen von unseren Wähler*innen das Mandat erhalten haben – und ich finde diese Arbeit für die Demokratie ziemlich systemrelevant.
[1] Ich argumentiere hier aus der Position einer relativ jungen Politikerin ohne Vorerkrankungen. Ich verstehe, dass für andere Parlamentarier*innen, insbesondere jene aus Risikogruppen, der Gedanke an eine mehrtägige Session Unbehagen auslöst. Dem Ansteckungsrisiko müssen wir begegnen und inbesondere Personen aus Risikogruppen besonders gut schützen. Mit einer guten Vorbereitung halte ich es für machbar, dass alle Parlamentarier*innen mit der nötigen Distanz und möglichst ohne Nah-Kontakt trotzdem an unserer Session teilnehmen können. Das ist wichtig – vor allem da es wahrscheinlich ist, dass die Mai-Session nicht die letzte unter dem „Social-Distancing-Regime“ bleiben wird.