Als Mahnmal aus der Vergangenheit lag es einfach da.
Wann hattest du das letzte Mal ein Telefonbuch in der Hand? Eines aus Papier, mit dünnen Seiten und endlosen Namenslisten? Mit „etwas“ Kraft kann, ähm könnte man es sogar zerreissen:
Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es lange her, seit du in einem Telefonbuch geblättert hast. Bei mir auch.
Und nun lag es also da, das Telefonbuch, dieser Stapel gebundenes Papier. Auf einem Tisch in einem vom Luzerner Kantonsparlament aus zugänglichen, schlauchartigen Raum im Regierungsgebäude, in dem sich Tische, Computerstationen für alle (das Prä-Laptop-Zeitalter lässt grüssen) und eine Kaffeemaschine befinden. Entsprechend trifft man hier Luzerner Kantonsrät*innen mit Kaffee- und Redebedürfnis, kleine Gruppen diskutieren, und zwischendurch nutzt jemand sogar die Computer. Das Telefonbuch war unbenutzt – ein Mahnmal aus einer Zeit, die gerade abläuft.
Zehn Minuten nachdem ich auf dem kurzen Rundgang durch das Gebäude das Telefonbuch erblickte und es mir ein Lächeln entlockte, stand ich direkt vor dem Luzerner Regierungsrat. Er hatte sich in corpore erhoben, wie alle anderen im Saal. Neben mir stand die Weibelin. Mir war heiss. Die Kantonsratspräsidentin sprach die Gelübdeformel, so wie sie die entsprechende Verordnung vorgibt: „Sie geloben, die Rechte und Freiheiten des Volkes zu achten, die Verfassung und die Gesetze zu befolgen und die Pflichten Ihres Amtes gewissenhaft zu erfüllen.“ Ich gelobte.
So startete mein erster Tag im Kantonsrat. Ich bin durch die Vereidigung nun ein vollwertiges Mitglied, darf mitreden und mitbestimmen. Der Zufall wollte es, dass meine erste Session gleichzeitig die erste papierlose Session des Rates war. Gerade rechtzeitig, möchte ich sagen – denn Papier habe ich schon länger aus meinem privaten Büro verbannt.
Im weiteren Verlaufe der Session liess sich dann eine Mehrheit der Ratsmitglieder von der Digitalisierungseuphorie anstecken: Eine Breitbandstrategie braucht der Kanton! Damit Stadt und Land, Bevölkerung und Unternehmen, Mensch und Maschine problemlos mit dem Netz interagieren können. Zweifellos eine wichtige Sache, die ich befürworte. Nur vielleicht etwas über-euphorisch, oder symbolpolitisch, dass der Kanton nun eine Strategie ausarbeiten soll für ein Anliegen, das gar nicht in seinen Händen liegt, sondern in der Zuständigkeit des Bundes…
Vorbei mit der Euphorie über die Digitalisierung war es beim Thema Datenschutzbeauftragter. Ich habe mich bereits in einem längeren Blogpost über dessen miese Situation ausgelassen. Und sie ist jetzt noch ein wenig schlimmer: Der Notfalldienst des bisherigen Beauftragten endet mit diesem Monat und ab Oktober haben wir im Kanton gar keine*n Datenschutzbeauftragte*n mehr. Regierungsrat Küng stellte eine baldige Lösung in Aussicht. Wie auch immer diese aussieht, das Hauptproblem bleibt: Für den Datenschutz investiert Luzern viel zu wenige Ressourcen. Gleich viel wie 2005.
2005, als Telefonbücher noch in alle Haushalte verteilt wurden. Es erscheint uns Ewigkeiten her. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mich als Kind das grosse, dicke, unhandliche Buch in unserem Haushalt faszinierte: So viele Seiten! So viele Namen! So viele Menschen! Das Telefonbuch war eine der grösseren verfügbaren Datensammlungen unseres Alltags. Damals. Heute erscheinen uns die Telefondaten als kleiner Felsbrocken inmitten eines riesigen Datenbergs.
Nicht nur die Menge hat sich verändert. Der Wechsel von analog auf digital hat Daten viel einfacher verarbeit- und verknüpfbar gemacht. Zählte ich früher im Telefonbuch die Familien meines Geschlechts von Hand und verglich die Zahl mit derjenigen aus den Nachbardörfern – eine doch längere Prozedur -, so dauert diese Spielerei auf local.ch heute wenige Sekunden (in Hildisrieden gibt es weiterhin mehr Estermanns als in der Stadt Luzern). Vor allem aber: Immer weniger Personen sind im Telefonbuch eingetragen. Wer früher im Telefonbuch stand, gehörte dazu zur Gesellschaft; er und sie waren erreichbar, Teil des kommunikativen Raumes. Heute sind wir am Dauerkommunizieren, auf verschiedenen Kanälen erreichbar – und froh, dass unsere Handynummer nicht auch noch im Telefonbuch steht (so bleiben wenigstens das Telefonmarketing und die Umfragen fern).
Das Telefonbuch ist ein schönes Beispiel, wie stark technologische Entwicklungen, neue Medien und neue Kommunikationswege unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben, aber auch unsere Einstellung zu Erreichbarkeit und Privatsphäre verändert haben. Während ich über das Telefonbuch im Luzerner Parlament noch nostalgisch lächeln kann, macht es mir Sorgen, wenn wir andernorts mit Konzepten und Ansichten aus dem analogen Zeitalter weiterarbeiten – Datenschutz zum Beispiel (ich wiederhole mich, ich weiss). Aber der digitale Blindflug Luzerns zeigt sich noch an vielen anderen Orten. Ich freue mich darauf, in den nächsten Monaten im Luzerner Parlament mehr digitalen Weitblick einzubringen.