Microsoft 365: GRÜNE Luzern fordern Marschhalt und digitale Souveränität


Medienmitteilung der GRÜNEN Luzern vom 16. Juni 2025


Es braucht einen Marschhalt beim 28-Mio.-Projekt M365: Der Zugriff der amerikanischen Behörden auf vertrauliche Verwaltungsdaten und besonders schützenswerte Personendaten wie Gesundheits- und Steuerdaten der Luzerner*innen ist mit der Microsoft-Could künftig möglich. Recherchen zeigen: Sämtliche internen Sachverständigen und das Kantonsgericht, welche vor diesem Schritt warnten oder ihn gar als nicht legal bezeichneten, hat die Regierung ignoriert oder sogar freigestellt. Die GRÜNEN fordern in einem dringlichen Vorstoss einen sofortigen Marschhalt des Projekts – und endlich eine demokratische Debatte darüber, wie Luzern digital sicher und souverän bleibt und sich unser Kanton nicht noch stärker einem amerikanischen Grosskonzern ausliefert.

Der Luzerner Datenschutzbeauftragte sagt es deutlich: Luzern begeht mit seiner Daten-Auslagerung in die M365-Cloud einen Rechtsverstoss und liefert sich zudem einem einzigen amerikanischen Grosskonzern aus – dem Trump & Co. jederzeit Anweisungen erteilen können. “Grundrechte wie das Recht auf digitale Selbstbestimmung der Luzerner*innen scheinen der Regierung egal – genauso wie die digitale Souveränität der Luzerner Verwaltung, denn sie liefert sich den Launen von Microsoft und Trump aus”, so die grüne Kantonsrätin Rahel Estermann.

Recherchen des Online-Magazins Republik zeigen: Die Luzerner Regierung hat nicht nur das Nein des Datenschutzbeauftragten, sondern auch die Kritik des Kantonsgerichts ignoriert. Und einen internen Sachverständigen gar freigestellt. Die Einschätzungen dieser Akteure zeigen, dass der Kanton weder juristisch noch bezüglich Sicherheitsvorkehrungen gegen die Risiken des Wechsels in die Microsoft-Cloud gerüstet ist. Alternativen wollte die Luzerner Regierung gar nicht erst kennen und hat darauf verzichtet, solche zu evaluieren. “Ein 28-Mio.-Projekt derart rücksichtslos durchzuziehen und als alternativlos darzustellen, ist absolut nicht nachvollziehbar, die Aufsichtskommission des Kantonsrats muss die Vorgänge umfassend beleuchten”, so Kantonsrat Fabrizio Misticoni.

Die GRÜNEN fordern mittels eines dringlichen Vorstosses einen Marschhalt des Projekts, bevor dieses in den nächsten Wochen in die Umsetzungsphase tritt. Und die GRÜNEN fordern endlich eine demokratische Mitsprache zu M365 im Kantonsrat. Vertrauliche Verwaltungsdaten und besonders schützenswerte Personendaten dürfen nicht in eine US-Cloud und der Kanton darf die Verantwortung dafür nicht nur an die einzelnen Mitarbeitenden abschieben. Sie werden dazu einen Vorstoss einreichen. Zudem braucht es einen langfristigen Ausstieg aus der gefährlichen Abhängigkeit von Microsoft. Diverse Verwaltungen in Europa haben den Microsoft-Exit geplant oder bauen mindestens Alternativen auf, so auch der Bund. Das Schweizer Bundesgericht hat seit je eine eigenständige Open-Source-Infrastruktur. Für Rahel Estermann ist klar: “MExit statt M365! Spätestens seit Microsoft auf Geheiss von Trump das E-Mail-Konto des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs sperrte, muss klar sein: Wer digital souverän sein will, macht sich auf die Socken für Alternativen. Es gibt genug gute Open-Source-Software und gerade jetzt braucht es den Willen und die Beschaffung durch die öffentliche Hand dazu.”

Hier geht’s zum dringlichen Vorstoss

Lancierung Reuss-Initiative

Geschätzte Anwesende

Menschen haben Rechte,
Firmen haben Rechte,
Geldvermögen in Stiftungen haben Rechte
– auch die Natur braucht Rechte.

Unsere Reuss-Initiative ist pragmatisch und visionär zugleich.

Die Initiative ist pragmatisch, weil es eigentlich selbstverständlich ist: Genauso wie Menschen, Firmen und Vermögen hat die Natur Interessen, die es zu verteidigen gilt. Sie braucht gesunde und intakte ökologische Kreisläufe, damit Tiere und Pflanzen miteinander gedeihen können. Und diese Interessen sind auch unsere Interessen, die Interessen der Menschen. Ohne eine intakte Lebensgrundlage, ohne Artenvielfalt und saubere Gewässer können wir Menschen langfristig nicht überleben. Das ist immer wichtiger im Zeitalter von Klimaerhitzung und Artensterben, Verschmutzungen mit Ewigkeits-Chemikalien in Gewässern und Nutzungsdruck aus Industrie, Landwirtschaft und Bevölkerung. Eine Rechtspersönlichkeit ist ein einfaches, bekanntes und bewährtes Mittel, um die Interessen besser vertreten zu können.

Die Reuss-Initiative ist visionär, weil wir damit unser Weltbild verändern und der Natur einen gleichwertigen Platz darin geben. Die Menschen haben schon immer mit der Natur zusammen gelebt. In den letzten 150 Jahren haben wir aber die Natur immer stärker ausgebeutet, dass sie in ihrer Vielfalt bedroht ist – Stichwort Artenverlust. Und wir haben so stark in das Ökosystem des Klimas eingegriffen, dass es aus der Balance ist. Wenn wir von hier aus auf die andere Seite der Reuss blicken, sehen wir das Luzerner Museum. Es blickt in einer aktuellen Ausstellung zu Demokratie und Natur nicht nur zurück auf das Zusammenspiel, sondern auch voraus – und fragt zum Schluss: Braucht auch die Natur Rechte, so wie die Menschen sie haben, erkämpft haben? Unsere Antwort ist: Ja. Wir müssen eine neue Balance mit der Natur finden. Dafür müssen wir sie anerkennen und ihr Rechte geben. Wir müssen unser menschen-zentriertes Weltbild neu justieren.

Das ist visionär und pragmatisch gleichzeitig, und auch überhaupt nicht unrealistisch. In Spanien, Neuseeland und Ecuador haben Gewässer bereits den Status einer Rechtspersönlichkeit erhalten.

Die Gewässer haben eine grosse Bedeutung im Kanton Luzern. Sie sind Lebensraum für Mensch und Tier. Hier mitten in der Stadt. Aber auch in den Luzerner Landschaften, viel und wenig genutzt. Gesunde Gewässer sind die Lebensgrundlage für unsere Landwirtschaft und Fischerei, für viele Tiere und Pflanzen im und am Wasser, und natürlich für den Lebensraum von uns Menschen. Luzern soll ein Schweizer Pionier-Kanton für die Rechte der Natur sein. Gerade Luzern.

Die Idee der Natur als Rechtsperson beschäftigt mich schon lange. Ich habe deshalb 2023 im Kantonsrat einen Vorstoss dazu eingereicht. Die Antwort und die Debatte im Kantonsrat zeigten: Es braucht nun eine Änderung in der Verfassung, um vorwärts zu kommen. Wir schlagen diese Änderung nun mit dieser Initiative vor. Ich freue mich, als Mitglied des Initiativ-Komitees Teil dieses Vorhabens zu sein und die Debatte darüber mit der Luzerner Bevölkerung zu führen.

zur Website: https://www.reuss-initiative.ch/index.html
zum Unterschriftenbogen: https://www.reuss-initiative.ch/uploads/1/5/2/7/152701976/kantonale_initiative_unterschriftenbogen_reuss-initiative_v20250417_5er.pdf

Leben Sie am liebsten im Jetzt!

Diplom-Rede anlässlich der Abschlussfeier der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, 14. Februar 2025

Liebe Diplomand*innen, liebe Anwesende

Glauben Sie, Sie wären glücklicher aufgewachsen in ihrer Kindheit und Jugend, wenn es noch kein Smartphone gegeben hätte?

Oder, falls Sie es in Ihrer Jugend noch keine Smartphones gab – sind Sie froh darüber?

Die Debatten rund um unsere Smartphone-Nutzung sind allgegenwärtig. Wie wir selbst mit diesem Ding umgehen, das unendlich praktisch ist und uns gleichzeitig alle Aufmerksamkeit frisst. Und dessentwegen das Konzept der Langeweile wohl bald stirbt.

Wir kennen die Debatten, wir sind selbst Teil davon. Wir erleben es an unserem eigenen Leib, wie das Smartphone unseren Alltag verändert:

  • uns schneller macht, in allem;
  • uns verbindet mit so vielen Menschen, jederzeit und überall;
  • unser Zugang zur Welt der Informationen ist, jederzeit und überall.

Und dass das alles manchmal nicht nur gesund ist. Uns das Leben auch schwer macht. Wir uns abhängig und ohnmächtig fühlen. Gestresst.

Die Frage, wie man glücklicher aufwächst – mit oder ohne Smartphone? – ist deshalb sehr legitim.

Und natürlich hoch interessant!

Vielleicht liegt die Antwort aber weniger in der Frage der Bildung, Erziehung, Psychologie und Soziologie. Sondern in der Nostalgie.

Vor kurzem bin ich auf spannende Meinungsforschung gestossen. Sie stellte Fragen wie:

  • Welches war eigentlich die Ära mit der besten Musik?
  • Wann war die News-Berichterstattung am verlässlichsten?
  • Wann war das Jahrzehnt mit der schönsten Mode?
  • Den besten Filmen und Fernsehsendungen?
  • Aber auch: Wann lief die Wirtschaft am besten?
  • Wann war die Politik sich einiger als jetzt?
  • Wann waren die Gemeinschaften wirklich noch eng verknüpft?
  • Welches Jahrzehnt kannte die glücklichsten die Familien?

Eine repräsentative Umfrage vom letzten Jahr, wo rund 2000 Amerikanerinnen und Amerikaner diese Fragen beantworteten, brachte interessante Resultate. Vor allem sehr aufschlussreiche Resultate.

Denn es gab nicht ein bestimmtes Jahrzehnt, wo die Musik am besten war. Nein, im Durchschnitt fanden die Teilnehmenden dann die Musik am besten, wenn sie ungefähr 15-jährig waren.

Etwa dasselbe gilt für Filme: Wir halten in der Regel unsere Jugendjahre für dasjenige Zeitalter, das die besten Filme hervorbrachte und zeigte.

Unsere Eltern wiederum halten ihre Jugendzeit für diejenige mit den besten Filmen. Und unsere Kinder werden das vermutlich genauso sagen, über ihre eigene Jugendzeit.

Als das verlässlichste News-Zeitalter empfinden wir rückblickend die Zeit, wo wir beginnen, News wahrzunehmen – ungefähr zwischen 8 und 12 Jahren. Später werden wir auch sagen, dass genau in jenen Jahren, zwischen 8 und 12 Jahren, die Familien ganz generell die glücklichsten waren. Ebenso war in unserer Erinnerung dann die Wirtschaft stark.

Diese Einschätzungen sind alle unabhängig davon, wie alt eine Person zum Zeitpunkt der Umfrage war. Ich persönlich war Ende Neunziger und Anfang der Nullerjahre in meiner Jugend.

Das heisst, die Familien wären in meiner Erinnerung in den Neunzigern am glücklichsten. Die besten Filme und die beste Musik erschien rund um die Jahrtausendwende.

Tatsächlich erinnert mich mein Spotify Unwrapped jedes Jahr daran, dass ich viel alte Musik höre. Ob das nun tatsächlich Britney Spears, Eminem oder U2 waren, das erzähle ich Ihnen nicht vor dem ersten Glas Wein beim Apéro. 😊

Wieder auf das Allgemeine bezogen: Über all die Jahrzehnte, egal wann wir in den letzten rund 80 Jahren geboren wurden, egal welche Technologien unseren Konsum oder unsere Gesellschaft verändert haben: Wir behalten uns eine Nostalgie für die Kinder- und Jugendjahre.

Unsere Erinnerung sagt uns: Dort war es gut: Die Musik, die Filme, die Mode war noch cool, die Familien waren glücklich und die News-Berichterstattung verlässlich.

Behalten wir diese Erkenntnisse im Hinterkopf und kommen auf unsere Frage nach der glücklichen Kindheit und Jugendzeit mit oder ohne Smartphone zurück.

Eigentlich würde das nun heissen:

  • Diejenigen, die noch kein Smartphone hatten, würden sagen: Viel glücklicher sind wir in der Kinder- und Jugendzeit ohne Smartphone, alles war noch gut damals!
  • Diejenigen, die schon ein Smartphone hatten, würden sagen: Wir haben so tolle Dinge gemacht, die Familien waren glücklich und die Musik toll und die Filme auch. Und das Smartphone hat immer eine Rolle gespielt.

Weil eben: Technologien und mit ihnen unser Zusammenleben verändern sich, aber was wir als «gute Zeit» für uns und die Gesellschaft betrachten, scheint immer an unseren jugendlichen Lebensabschnitt geknüpft.

Egal ob das eine Zeit war, wo gerade die Radio-Geräte in die Stuben Einzug hielten, oder später die Fernseh-Geräte. Oder, wie bei mir, als plötzlich die Home-Computer das Tor zu völlig neuen Welten, über das sogenannte Internet, eröffneten – mit seinem scheinbar unerschöpflichen Fundus an Information und Kultur.

Oder dann, eben, in den Zehner-Jahren das Smartphone, das dieses Tor plötzlich in unsere Hosen- und Handtasche verlegte und so ständig verfügbar machte.

Es scheint also unabhängig von der Technologie, dass unsere Kindheits- und Jugendjahre das Bild unsere Gesellschaft und Kultur prägt. Oder?

Stimmt es auch hier und heute? Die Technologie verändert sich, die Jugendzeit bleibt eine gute Zeit? Oder verändert es sich mit dem Smartphone – mit all seinen neuen Möglichkeiten und neuen Abhängigkeiten?

Jüngst sagte mir ein Vater eines Teenagers: «Mein Sohn hat mir gesagt, seine Kindheit sei beendet gewesen, als er das Smartphone erhalten hat.»

Ist es vielleicht so, dass da eine wichtige Phase abrupt endet, wenn man ein Smartphone erhält? Landet man im Erwachsenenleben mit einem Smartphone? Fertig heile Welt und das Gefühl von glücklichen Familien, verlässlichen News und tollen Filmen?

Und das alles nicht nur abrupt, sondern im Empfinden vieler vermutlich auch zu früh? Und das gerade auch in der heutigen Zeit, die uns voller Krisen und Niedergang scheint?

Die erwähnte Umfrage bei den Amerikanerinnen und Amerikanern, die ich vorher ausführlich zitierte – diese Umfrage zeigt auch auf, wie eng liiert die Nostalgie über die guten Zeiten mit dem Kulturpessimismus ist.

Die Nostalgie wächst sich quasi zum Kulturpessimismus aus. Und das als sehr verbreitetes Phänomen.

Denn in der Umfrage mussten die Teilnehmenden auch auf die umgekehrte Frage antworten:

  • Wann lief die schlimmste Musik?
  • Welches Zeitalter brachte die schlechtesten Filme hervor?
  • Wann war die Politik am drastischsten polarisiert und paralysiert?
  • Wann waren die News am wenigsten verlässlich, wann waren die Familien nicht glücklich, wann war die Wirtschaft in der schlimmste Krise – wann war all das?

In jeder einzelnen Frage, wirklich in jeder einzelnen Frage war die meistgewählte Antwort: Jetzt.

Sogar die Grosse Depression zu Beginn der Dreissigerjahre, die grösste amerikanische Wirtschaftskrise seit je – die Arbeitslosigkeit belief sich damals auf 25 % und die Durchschnittslöhne sanken um 60 % – sogar diese Zeit wurde weniger als Antwort gewählt als die Antwort: Jetzt ist es am Schlimmsten.

Ihnen ist schon längst klar: Diese Antworten spiegeln das subjektive Empfinden, stützen sich aber nicht auf objektiv feststellbare Tatsachen. Die Antworten sind eher ein Proxy, ein Indiz dafür, dass sehr viele Personen glauben, es werde alles immer schlimmer. Wir Menschen gefallen uns manchmal sehr darin, schwarzzumalen.

Kulturpessimismus ist ein verbreitetes Phänomen – passen wir auf, ihm nicht zu oft auf den Leim zu gehen – er ist einfach und verlockend und sich ihm entgegenzustellen ist manchmal anstrengend. Aber es lohnt sich.

Was also tun und welche Antworten finden, wenn der Vater eines Teenagers erzählt, dass sein Sohn das Gefühl hat, seine Kindheit sei beendet gewesen, als er das Smartphone erhalten hat? Ist es gerade jetzt vielleicht anders?

Verändert sich gerade jetzt, mit dem Smartphone, und mit der verrückt schnell drehenden Welt, verändert sich jetzt dieses alte Gesetz, dass die Kindheit und Jugendzeit eine schöne Zeit und im Nachhinein die «beste Zeit» ist?

Oder sollten wir vielleicht auch fragen: Ist es relevant, wie das soziale Umfeld ist? Hat es damit zu tun, wann die Kolleginnen und Kollegen ein Smartphone haben?

Spielt es eine Rolle, wie die Eltern mit dem Smartphone umgehen, wenn ein Kind Jugendlicher wird? Das heisst: Ist das Smartphone für ein Kind oder die Jugendliche zuerst ein Bildungs- und Vernetzungsinstrument, eine Spiel-Konsole oder das Tor zur weiten, unendlichen Video-Welt der Plattformen mit seinen Rabbit Holes?

Viele von Ihnen antworten auf die Frage vermutlich mit Ja: Ja, es macht einen grossen Unterschied: Das Umfeld spielt eine grosse Rolle, wie das Smartphone uns nützt und schadet.

Vermutlich können Sie viele Beispiele dazu aus Ihrem Alltag erzählen, denn viele von Ihnen sind bereits beruflich engagiert in Kontexten, wo dies wichtige Fragen sind. Und Sie haben sich auch in Ihrer Ausbildung dieser Frage gewidmet – in allen Studiengängen: Als Sozialarbeiterin, als Sozialpädagoge oder als Soziokulturelle Animatorin.

Ziemlich sicher werden Sie sogar versuchen, das positiv zu beeinflussen; gute Vorschläge zu finden, wie das Smartphone das eigene Leben und das Zusammenleben erleichtert und nicht erschwert.

Sie werden sich dabei fragen: Was macht es aus, dass man eine schwierige Zeit, wie sie viele ihrer Klient*innen erleben, gut meistert?

Wie wird die Jugend für junge Menschen auch wirklich zu einer guten Zeit?Mit und dank dem Smartphone, in unserer Smartphone-Gesellschaft?

Sie kennen die Antworten. Dank Selbstwirksamkeit, Geborgenheit, Gerechtigkeit.

Und wenn wir auf unsere ursprüngliche Frage zurückkommen – wächst man glücklicher auf, wenn man kein Smartphone hat?

Dann müssen wir sagen: Die Antwort ist egal!

Denn wir haben es in der Hand, die Technologien so einzusetzen, dass sie unser Zusammenleben besser machen. Sich an unseren Werten wie Gerechtigkeit orientieren. Dass sie unser Leben vereinfachen und uns Freude machen, statt uns zu deprimieren.

Vielen Leuten fällt das manchmal schwer. Aber es gibt wohl kaum eine Gruppe, die so gut ausgerüstet ist für diese Herausforderung, wie Sie:

Sie haben sich mit ihrer Ausbildung die Werkzeuge und das Wissen angeeignet, um unser Zusammenleben zu verbessern, und ganz viele Menschen individuell zu unterstützen.

Sie haben den Wertekompass, der dafür nötig ist – Sie haben Antworten auf die Fragen:

In welcher Gesellschaft sollen diejenigen Menschen leben, mit denen Sie und für die Sie arbeiten? In welcher Gesellschaft wollen Sie leben?

Sie haben vermutlich eine Vorstellung einer gerechten Gesellschaft in der analogen Welt – was ist für Sie eine gerechte Gesellschaft in der digitalen Welt?

Haben Sie den Mut, Entscheide zu treffen.

Seien Sie sich Ihrer Selbstbestimmung bewusst.

Oder gewinnen Sie Selbstbestimmung zurück.

Auch im digitalen Raum.

Neue Technologien krempeln vermeintlich unser Leben um, verändern unsere Gesellschaft. Ja, das tun sie. Man hat das Gefühl, man kann nicht mitreden, weil man technische Details nicht versteht.

Ich erlebe das oft auch in der Politik so – viele Menschen scheuen sich, sich eine starke politische Meinung über KI, die elektronische Identität, oder die Regeln auf Social-Media-Plattformen zu machen. Viele denken: Ich verstehe das ja technisch gar nicht, was da passiert.

Teilweise fühlen wir auch Ohnmacht – fühlten sie sich nicht ohnmächtig, als Musk und Zuckerberg letzten Monat Ihre Ankündigungen machten?

Dass X nun eine Hassmaschine mit extremem Rechtsdrall ist und Instagram für Minderheiten ein schwieriger Ort wird?

Sie brauchen nicht Programmierer*in zu werden, um politisch mitzureden. Und vor allem mitzugestalten. Denn bei der Einführung und Nutzung von Technologien geht es um viel mehr als sie einfach technisch zu verstehen.

Es ist im eigentlichen Sinne «Zivilisierungsarbeit».

Die türkisch-amerikanische Soziologin Zeynep Tufekci hat es mal folgendermassen beschrieben:

The work of civilization is not just discovering and unleashing new and powerful technologies; it is also regulating and shaping them and crafting norms and values through education and awareness that make societies healthier and function better.

Es geht also darum, dass wir für neue Technologien wie Smartphones oder Social-Media-Plattformen auch neue Regeln finden und festsetzen müssen.

Dass wir Normen und Werte brauchen, wie wir sie anwenden wollen. Dass wir sie mit Bildung und Sensibilisierung weitertragen und pflegen müssen. Dann wird unsere Gesellschaft gesünder und funktioniert besser.

Sie bringen alles dafür mit, hier eine entscheidende Rolle zu spielen. Unsere Smartphone-Gesellschaft zu einer gesunden und funktionierenden Gesellschaft zu machen.

Ich wünsche Ihnen die Entschlossenheit und das Selbstbewusstsein, diese Rolle wahrzunehmen.

Sie werden damit ausgezeichnete Sozialarbeiter*innen, soziokulturelle Animator*innen und Sozialpädagoginnen. Unterstützend, positiv, auf der Höhe der Zeit. Sie haben sich all dies erarbeitet, mit viel Passion und Zeit über die letzten Jahre.

Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Abschluss und bin stolz, Sie hier zu sehen.

Wahrscheinlich genauso stolz, wie Ihre Angehörigen und die Mitarbeitenden der Hochschule Luzern, die Sie auf Ihrem Weg begleitet haben.

Es gab übrigens in dieser Umfrage, die uns durch meine Rede begleitete, noch eine Frage an die Teilnehmenden. Neben den besten Zeiten und den schlimmsten Zeiten war es auch die Frage:

In welcher Dekade würden Sie am liebsten leben?

Die meistgewählte Antwort war: Jetzt! Genau in diesem Zeitalter.

Das wünsche ich Ihnen ganz persönlich: Leben Sie am liebsten im Jetzt.

Auch wenn – wie bei den Umfrage-Teilnehmenden – das Jetzt als schwieriges Zeitalter erscheint:

Behalten Sie die Freude am Jetzt und behalten Sie sich die Zuversicht und die Lust, die Dinge stets zum Besseren zu verändern!

Herzlichen Dank.

Ein doppeltes Eigengoal für die Sicherheit und den Rechtsstaat

Haben Sie auch kurz gestutzt diese Woche, als Sie gelesen haben, dass die Luzerner Fankurve im Stadion nur offen bleibt, wenn der Gewalttäter vom letzten Wochenende sich stellt oder die Polizei ihn dank Hinweisen findet? Irgendwie können Sie das nachvollziehen, man muss doch etwas gegen die Gewalt tun – aber irgendwie fanden Sie auch, etwas sei doch falsch an diesem Ultimatum? Beide Empfindungen sind richtig: Alle Menschen finden, dass die Gewalt keinen Platz hat, wir wollen alle friedliche und geordnete Fussballspiele. Aber das Luzerner Ultimatum ignoriert die Prinzipien unseres Rechtsstaats. Die Regeln die wir verinnerlicht haben, wie wir in unserer Gesellschaft Gerechtigkeit schaffen: Die Verantwortung einer Straftat liegt einzig bei der Täterin oder dem Täter. Und es ist der Staat, der diese Person verfolgt und dann bestraft.

Es ist haarsträubend, wie die Behörden diese Prinzipien beim Thema Gewalt rund um Fussballspiele einfach über den Haufen werfen und auf Methoden aus früheren Zeiten zurückgreifen, die wir schon längst überwunden glaubten. Beispielsweise die Sippenhaft: Eine Person begeht eine Straftat, aber bestraft wird die ganze Gruppe, der man sie zuschreibt. Die Sperrung von Fankurven ist eine Sippenhaft, eine Kollektivstrafe – die Schweizer Behörden haben sie mit dem sogenannten Kaskadenmodell eingeführt. Mit der Begründung, es sei nach Ausschreitungen eine Präventionsmassnahme, um weitere Ausschreitungen zu vermeiden. Schon diese Kollektivstrafe aus Präventionsgründen ist vermutlich rechtswidrig, derzeit ist ein Gerichtsverfahren dazu hängig.

Die Luzerner Bewilligungsbehörden setzen nun aber noch einen Drauf: Der Täter eines Vorfalls vom letzten Wochenende konnte noch nicht gefasst werden, deshalb sperren sie die Fankurve. Eine solche Kollektivstrafe für vergangene Ereignisse ist im Schweizer Recht nicht zugelassen. Aus gutem Grund: Wir anerkennen in unserer Gesellschaft die Selbstverantwortung, nicht die Sippenhaft. Nur ein kranker Rechtsstaat setzt darauf, die Menschen zu belohnen, wenn sie sich untereinander verfolgen und denunzieren.

Das staatliche Handeln muss sich immer an die Regeln und Prinzipien halten, die wir unserem Rechtsstaat gegeben haben. Dass der Rechtsstaat für gewisse Gruppierungen offensichtlich nicht gilt, provoziert nur heftige Reaktionen und neue Regelüberschreitungen. Ein klassisches Eigengoal.

Der Entscheid, die Fankurve zu sperren, erreicht auch bezüglich Sicherheit das Gegenteil vom Erhofften. Die Fans der Stehplatztribüne werden nun einfach im Sitzplatzbereich das Spiel verfolgen. Gleich zwischen Kids-Corner und Gästefans statt separiert. Die Massnahme hat die Situation im Stadion für die Sicherheitskräfte schwerer kontrollierbar gemacht. Auch ein Eigengoal für die Sicherheit.

Es ist absolut unverständlich, weshalb Regierungsrätin Ylfete Fanaj und ihre Behörden diese Woche derart hilf- und kopflos agieren: Sie kennen eigentlich die funktionierenden Rezepte für friedliche und geordnete Fussballspiele und setzen diese seit einem Jahr um – meist erfolgreich. Mit den neuesten Massnahmen verspielen sie aber viel Vertrauen. Die Fans und der Fussballklub werden sich davon nicht beeindrucken lassen – im Gegenteil, der Erpressungsversuch ist eine unnötige Provokation, welche die Zusammenarbeit gefährdet. Und man fragt sich: Wie viel gilt der Rechtsstaat noch, wenn sich die Behörden von populistischen Massnahmen verführen lassen und die Zeitungsredaktion noch dazu gratuliert? Dieser Entscheid ist ein doppeltes Eigengoal für Sicherheit und Rechtsstaat.

Fraktionserklärung Klimabericht NettoNull 2050

Zum Abschluss der rund 20-stündigen Debatte rund um den Klimabericht des Kantons Luzern für NettoNull 2050 im Luzerner Kantonsrat hielt ich die Fraktionserklärung namens der GRÜNEN. Die Erklärung beinhaltet eine Einordnung, was wir in der Luzerner Klimapolitik bereits erreicht haben und welcher Weg noch vor uns liegt.

Die Video-Aufzeichnung des Votums vom 21. März 2022 findet sich unter diesem Link (mit Zeitstempel).

Herr Präsident, geschätzte Kolleginnen und Kollegen

Wir haben gerade einen Meilenstein in der Luzerner Klimapolitik gesetzt: Als Kanton haben wir uns damit befasst, wie wir die grösste Herausforderung dieses Jahrhunderts angehen wollen. Wie wir die Klimakrise bekämpfen, die Lebensgrundlagen unseren Planeten sichern – und uns trotzdem mit einer erhitzten Welt arrangieren. Auf diesen Meilenstein und die Arbeit, die darin eingeflossen ist, darauf dürfen wir auch ein bisschen stolz sein.

Wir haben zusammen die ersten Schritte auf einem langen Weg unternommen. Aber wir müssen uns auch bewusst sein: Das absolvierte Teilstück ist klein im Vergleich zu dem Wegstück, das noch auf uns wartet, bis wir im Einklang mit den Grenzen unseren Planeten leben und wirtschaften können.

Heute schreiben wir den 21. März. Am 25. Februar, vor dreieinhalb Wochen, fiel der letzte Tropfen Regen in der Stadt Luzern. In diesem Monat März blieben die Regenbecher bisher ausnahmslos leer. Und wenn man sich die Prognosen für die nächsten, letzten März-Tage anschaut, so könnte dieser März 2022 ein Monat ohne einen Millimeter Niederschlag in Luzern bleiben. Die vielen Landwirtinnen und Landwirte in unserem Kanton können ihnen sagen, was eine lange Trockenheit bedeutet, und wie sich das Klima in den letzten Jahren verändert hat.

Für die Klimakrise brauchen wir nicht in die Zukunft zu schauen. Wir brauchen keine extremen Wetterereignisse vom anderen Ende des Globus. Nein, die Klimakrise findet hier und jetzt statt, auch bei uns. Manchmal still wie die Trockenheit in diesem März. Manchmal laut wie die Hagelgewitter im letzten Juni.

Wie es jetzt, in den nächsten Monaten und Jahren, weitergeht, ist entscheidend. Aus Sicht der GRÜNEN und Jungen Grünen wäre es jetzt der grösste Fehler, sich nun zurückzulehnen und zu sagen: 2050 ist noch weit weg, und irgendwann werden wir dank Technologien ohne grosse Anstrengung netto null erreichen. Das Budget an CO2, das unsere Atmosphäre noch verträgt, könnte innerhalb der nächsten Jahre schon aufgebraucht sein. Jedes Zehntelgrad Erwärmung, das wir in den nächsten Jahren verhindern, wird sich mehrfach auszahlen – für die Natur, aber auch ein bisschen für unser Portemonnaie. Es braucht eine schnelle Absenkung der Emissionen. Das ist keine Ideologie, sondern Naturwissenschaft. Und Finanzbuchhaltung. Leider ist dies im Klimabericht nicht genügend anerkannt, dass es einen schnellen Absenk-Pfad und die nötigen finanziellen Investitionen braucht, um problematische Kipppunkte im Klima zu verhindern. Wir GRÜNE werden den Bericht nicht in zustimmendem Sinne zur Kenntnis nehmen, sondern neutral. Wir sind ambivalent. Mein folgender Ausblick wird zeigen, dass wir gewisse Leitplanken für die nächste Zeit, die wir nun im Klimabericht gesetzt haben, zukunftsfähig finden – andere weniger.

Schauen wir also voraus – denn nun geht es darum, dass wir uns schnell an die Umsetzung des Klimaberichts machen müssen. Gemeinsam wollen wir schnell die Gesetzesänderungen anpacken – wir haben das bekräftigt, indem wir bald Vorlagen zu den Revisionen des Energiegesetzes, des Planungs- und Baugesetzes und des Steuergesetzes verlangen. Leider haben wir es nicht gewagt, ambitionierte Ziele für einen emissionsarmen Verkehr zu setzen – dabei wäre das einer der grössten Hebel in unserem Kanton. Auch müssen wir es schaffen, unsere Landwirtschaft mitzunehmen in eine veränderte Zukunft – nicht nur die natürlichen Grundlagen verändern sich durch den Klimawandel, auch der Konsum wird sich verändern. Die Landwirtschaft hat den Schlüssel in der Hand, unsere Lebensgrundlagen der Zukunft zu schaffen. Wir Grüne und Junge Grüne möchten gerne Hand bieten, hier gemeinsam Lösungen zu finden – dies bedingt allerdings, dass sich alle aufeinander zu bewegen.

Als Lebensgrundlage brauchen wir neben einer Senkung der CO2-Emissionen auch eine intakte Biodiversität. Wir vergessen diese Aspekt vor lauter Zählung von Tonnen CO2 allzu leicht. Aber die Klimakrise ist auch eine Biodiversitätskrise. Leider fristet dieses Thema im Klimabericht ein Schattendasein. Diese Hausaufgabe verbleibt in der Pendenzenliste unseres Kantons, und wir werden nicht zögern, ihn daran zu erinnern.

Die Energiewende haben wir heute hier drin bestätigt. Die Zukunft liegt bei den Erneuerbaren Energien, da sind wir uns fast alle einig.

Und trotzdem zögern wir, leider – obwohl wir in den letzten Monaten gemerkt haben, wie dringlich dieser Ausbau ist. Zuletzt hat uns der Ukraine-Krieg dies vor Augen geführt: Erneuerbare Energien sind auch Friedens- und Freiheitsenergien. Rohstoffe sind sehr oft der Gegenstand oder ein wichtiger Bestandteil von kriegerischen Auseinandersetzungen. Mit Ausnahme von Norwegen sind alle, alle Länder, von denen wir fossile Energien beziehen, autoritäre Staaten. Wir schonen das Klima, wir stärken unsere Unabhängigkeit, Frieden und Demokratie, je schneller wir unsere Energieversorgung fossilfrei gestalten. Wir GRÜNE und Junge Grüne verlangen, dass wir nun nicht alle Hebel in Bewegung setzen für einen noch schnelleren Ausbau der Solarenergie in der Schweiz. Jedes besonnte Dach in der Schweiz braucht eine Solaranlage – wir freuen uns auf eine schnell vorliegende Botschaft zur Anpassung des Gesetzes, wie die Regierung dies hier angekündigt hat.

Den Weg in eine Welt, welche gegen die Klimaerhitzung kämpft und sich gleichzeitig ihr anpasst, können wir in der Politik nicht alleine gehen. Wir müssen die Bevölkerung mit ihren Ängsten und Bedürfnissen ernst nehmen, und wir dürfen nicht einfach die Kosten uneingeschränkt auf sie abwälzen. Klimaschutz geht nur sozial – ansonsten ist er nicht akzeptiert. Deshalb ist es wichtig, dass wir die soziale Verträglichkeit nicht aus den Augen verlieren.

Ich werde in dieser Fraktionserklärung nicht mehr länger. Denn es ist jetzt genug geredet. Es ist Zeit, zu handeln. Die Klimakrise ist jetzt und hier und der Weg noch lang.

Wir messen die Regierung und unseren eigenen Rat an ihren Taten, die jetzt folgen werden.

Zusammen müssen wir uns dieser Herausforderung stellen, zusammen müssen wir es schaffen, die Lebensgrundlage unseres Planeten zu sichern.  Es gibt keinen Planeten B.

Warum ich beantragt habe, dass das Luzerner Parlament trotz Pandemie tagt

Am 10. April habe ich einen Antrag unterschrieben, damit ich endlich wieder tun kann, wofür mich die Luzerner Bevölkerung vor einem Jahr (wieder-)gewählt hat: meine politischen Ansichten in den Luzerner Kantonsrat einbringen. Trotz Pandemie. [1] Beziehungsweise gerade deswegen.

einberufung_session_mai2020

Die kurzfristige Absage der März-Session war für mich nachvollziehbar. Sie hätte an jenem denkwürdigen Montag gestartet, als der Bundesrat den Shutdown des öffentlichen Lebens verkündete – der Parlamentsbetrieb wäre im Minimum chaotisch und im Maximum gesundheitsgefährdend gewesen.

Die Absage der Mai-Session empfand ich als undemokratischen Affront. Am 31. März hatte die Geschäftsleitung des Kantonsrats dies entschieden, sechs Wochen vor dem Termin. Natürlich, in diesen Tagen waren die gemessenen Ansteckungen auf einem Höhepunkt, die Verunsicherung über die Entwicklung des Coronavirus war (und ist) riesig, wir müssen deshalb alle unsere derzeitigen Planungen stets mit einem Stern versehen: *sofern es die Lage erlaubt. Niemand will tagen, wäre das halbe Parlament krank. Dass man die Session bereits „vorsorglich“ absagte, trotz genügend Zeit zur Vorbereitung und Umsetzung der Distanz-Regelung, verstehe ich nicht. Vor allem zeugt es davon, wie gering man das Parlament und seine Arbeit schätzt.

Diese Geringschätzung stimmt mich besonders nachdenklich, weil wir als Parlament die Bevölkerung und ihre Ansichten repräsentieren und vertreten. Die Pandemie und die Anstrengungen, um sie einzudämmen – die ich für nötig und richtig halte – wälzen unsere Gesellschaft und Wirtschaft um wie nichts mehr seit dem Zweiten Weltkrieg. Unsere Grundrechte werden massiv eingeschränkt, Militär und Zivilschutz mobilisiert, Wirtschaftszweige stillgelegt und Milliarden-Hilfspakete geschnürt. Ich muss das nicht weiter ausführen, wir alle wissen: Was gerade an Veränderungen passiert, ist gigantisch und einschneidend. Sowohl die Massnahmen, mit denen wir die Virus-Verbreitung bekämpfen, wie auch diejenigen, mit denen wir versuchen, die sozialen und wirtschaftlichen Schäden abzufedern, sind Weichenstellungen, die unsere Gesellschaft für die nächsten Jahre prägen. Und bei all dem soll die Bevölkerung aussen vor bleiben? Die direktdemokratischen Instrumente (Unterschriftensammlungen, Versammlungen und Abstimmungen) wurden ausgesetzt – und nun soll auch die repräsentative Vertretung im Parlament ruhen?

Der Einwand liegt auf der Hand: Geben derzeit nicht sowieso die Exekutiven den Takt vor, allen voran natürlich der Bundesrat auf nationaler Ebene, und die Rolle des Luzerner Kantonsrats ist im Moment vernachlässigbar? Dem halte ich zwei Dinge entgegen:

Erstens sind durchaus wichtige Verantwortlichkeiten, die viele Menschen ganz direkt betreffen, auf kantonaler Ebene angesiedelt: Die Kita-Unterstützungsfrage beispielsweise (der Bund hat den Ball den Kantonen zugespielt), allfällige zusätzliche Unterstützung für Unternehmen und Kulturbetriebe (angepasst auf die lokalen Begebenheiten), viele offene Fragen im Bildungsbereich (Abschlussprüfungen und -zeugnisse sowie Übertrittsverfahren, beispielsweise). Und auch gerade im so zentralen Gesundheitswesen hält der Kanton wichtige Hebel in der Hand. Hier braucht es vielleicht Entscheide des Kantonsrates, vielleicht auch nicht – vor allem braucht es die Debatte mit allen politischen Kräften. Auch neben der Pandemie gibt Geschäfte, die bereit sind und schnell erledigt werden sollen: Beispielsweise liegt der Ausbau der Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität bereit.

Zweitens, und hier hüpft mein Herz auf den rechtsstaatlichen Fleck: Nur wenn das Parlament tagt, können wir die Regierung rechenschaftspflichtig halten. Nur dann können wir auf parlamentarischem Weg Fragen stellen und Anliegen einbringen. Das ist (auch) unsere Aufgabe als Legislative: Das Handeln der Regierung kontrollieren und wo nötig und im Rahmen der Kompetenzen legitimieren und korrigieren. Informationen und Rechenschaft einfordern. Und zwar nicht hinter verschlossenen Kommissionstüren, sondern in der Öffentlichkeit. Nur dann spielen die Checks-and-Balances zwischen den Gewalten, die eine Demokratie so erfolgreich machen.

Gerade im Kanton Luzern ist die Kontrollfunktion des Parlaments der Regierung gegenüber besonders bedeutsam, weil eine grosse Minderheit der politischen Kräfte nicht in die Exekutiv-Gewalt eingebunden ist.

Gerade im Kanton Luzern ist die Kontrollfunktion des Parlaments der Regierung gegenüber besonders bedeutsam, weil eine grosse Minderheit der politischen Kräfte nicht in die Exekutiv-Gewalt eingebunden ist. Seit fünf Jahren regieren Bürgerliche. Seit den Wahlen vor einem Jahr beträgt das Missverhältnis 35 % (SP, Grüne, Grünliberale), ein satter Drittel des Parlaments sieht seine parteipolitischen Ansichten in der Regierung nicht vertreten. Das widerspricht der schweizerischen Tradition der Konkordanz (und ist wohl in diesem krassen Missverhältnis in keinem anderen Kanton zu finden, wie ein kurzer Blick auf alle Kantonsregierungen zeigt). Man hätte also etwas demokratisches Gespür von den Regierungsparteien erwarten können – nope.

Richtig irritierend fand ich dann die Reaktion auf unsere Forderung, die Demokratie zu beleben und die Session durchzuführen: Es sei Selbstinszenierung, die Parlamentsarbeit in der Coronakrise „Symbolpolitik“, die Session koste zu viel – und einzelne Exponenten des Freisinns denken sowieso, Parlamentarier*innen seien nur arbeitswillig wegen des Sitzungsgeldes (das wären dann 350 Fr. pro Tag, inklusive Reiseentschädigung). Schade – vor über 150 waren es die Ahnen genau jener Liberalen, die unseren Bundesstaat mit Demokratie und Rechtsstaat begründeten. Glücklicherweise scheinen die grundrechtlichen Geister andernorts wach, auch auf bürgerlicher Seite: So warnte just Ende März Ständerat Andrea Caroni, FDP, vor einem „Anti-Parlamentarismus“ (er meinte damit aber in der Bevölkerung, nicht in der eigenen Partei). Zudem planen viele Kantone, ihre Mai-Session – mit den nötigen örtlichen Anpassungen – durchzuführen. So liess der Kanton Schwyz, ultra-bürgerlich übrigens, stolz verlauten: „Sie [die Leitung des Kantonsrats] will damit ein Zeichen setzen, dass der Kantonsrat auch in der ausserordentlichen Lage funktioniert.“

Damit dies auch für den Kanton Luzern gilt, haben 30 Parlamentarier*innen erfolgreich beantragt, dass die Mai-Session des Kantonsrats stattfindet. Es ist die Parlamentsvertretung, für die wir Kantonsrät*innen von unseren Wähler*innen das Mandat erhalten haben – und ich finde diese Arbeit für die Demokratie ziemlich systemrelevant.

[1] Ich argumentiere hier aus der Position einer relativ jungen Politikerin ohne Vorerkrankungen. Ich verstehe, dass für andere Parlamentarier*innen, insbesondere jene aus Risikogruppen, der Gedanke an eine mehrtägige Session Unbehagen auslöst. Dem Ansteckungsrisiko müssen wir begegnen und inbesondere Personen aus Risikogruppen besonders gut schützen. Mit einer guten Vorbereitung halte ich es für machbar, dass alle Parlamentarier*innen mit der nötigen Distanz und möglichst ohne Nah-Kontakt trotzdem an unserer Session teilnehmen können. Das ist wichtig – vor allem da es wahrscheinlich ist, dass die Mai-Session nicht die letzte unter dem „Social-Distancing-Regime“ bleiben wird.

 

Beyond Ohnmacht: Workshop am Winterkongress

“Google und Facebook zerschlagen, dann erledigen sich viele Probleme von selbst!” Man mag diese Forderung unterstützen oder nicht, im schweizerischen Rahmen ist eine solche Regulierung schlicht nicht durchführbar. So bleibt die Frage: Braucht es Updates oder gleich neue Gesetzgebungen in der Schweiz für digitale Konzerne? Und wenn ja, was soll diese bewirken?

In diesem Rahmen organisierten Markus Schmidt und ich von der AG Netzpolitik der Grünen Schweiz am Winterkongress einen Workshop zum Thema “Beyond Ohnmacht – Wie Digitalkonzerne regulieren?” Das Warm-Up positionierten sich alle Teilnehmenden zu verschiedenen Thesen anhand ihrer Zustimmung – wobei sich die Meinungen zu zwei der drei Thesen ziemlich stark aufteilten. Nur bei These zwei war man sich einig: Die grossen Unternehmen lösen ihre ethischen und sozialen Herausforderungen früher oder später selber – NICHT!

Eine gute Ausgangslage, um Diskussionen darüber zu führen, unter welchen Bedingungen Digitalkonzerne wirtschaften sollen – vor allem aber auch, welche alternativen Konzepte und Standards wir im Netz (fördern) wollen. Die Teilnehmenden haben in Kleingruppen verschiedene Ansätze diskutiert und einen Text zum Einstieg erhalten. Die Gruppen hatten folgenden Fokus:

  1. Elizabeth Warren: Digitalkonzerne zerschlagen (Text)
  2. Alternativen entwickeln und pushen (Text)
  3. Offene Standards und Interoperabilität als Lösung? (Text)
  4. Divestment: Die Macht der (öffentlichen) Investor*innen (Text)
  5. Ein Zertifikat für ethisches Design (Text)
  6. Öko-System schaffen durch Teilen von Daten (Text)
  7. Die Aufmerksamkeitsausbeutungssteuer (Text)
  8. Freie Gruppe

Ziel der Gruppen war es, am Ende der Diskussion eine Kurzforderung zu formulieren (maximal 140 Zeichen). Über diese Forderungen stimmten die Teilnehmenden am Ende online ab:

  • Gruppe 8 – (15 Stimmen) GNU-Net statt 70er-Jahre-Internetprotokoll / anonymer Online-Einkauf / Kultur der Nichtverwendung digitaler Technologien / keine Unternehmen im Internet / Datensammeln ist nachrichtendienstliche Tätigkeit
  • Gruppe 2 – (11 Stimmen) Der Staat soll dezentrale Open-Source-Infrastruktur fördern und dafür sensibilisieren, vor allem in Verwaltungen und Schulen.
  • Gruppe 5 – (5 Stimmen) Wir fordern ein internationales, unabhängiges Gremium, das aktive Transparenz, Verzicht auf manipulierende Techniken, Sensibilisierung und leicht verständliche AGBs zertifiziert
  • Gruppe 7 – (5 Stimmen) Nicht Aufmerksamkeit, sondern Umsätze in der Schweiz besteuern
  • Gruppe 6 – (4 Stimmen) Daten, Systeme und Services müssen entkoppelt werden.
  • Gruppe 1 – (3 Stimmen) Die Ballung der Marktmacht ist nicht wünschenwert. Massnahmen dagegen müssen allerdings auf supra-nationaler Ebene ergiriffen werden, damit sie eine Chance haben.
  • Gruppe 3 – (2 Stimmen) Wir fordern eine staatliche Grund-Infrastruktur, um  Interoperabilität, Datenhaltung und Datenhohheit der datengetriebenen Plattformen sicherzustellen.

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Bild: Diana Hornung

Vor allem der Massnahmekatalog der freien Gruppe konnte viele Stimmen auf sich vereinigen – wobei aufgrund der Vielfältigkeit die Aussage des Votums noch einige Interpretationsleistung verlangt. Als weiterer wichtiger Punkt wurde die Förderung von Open-Source-Projekten als Alternativen identifiziert. Steuerfragen sowie die Zertifizierung von ethischem Design sind präsente Themen, bei denen auch die Schweiz mitreden kann – und vielleicht sogar vorangehen soll.

Wie erwartet ohne fixfertiges Positionspapier, aber um viele Ideen und eine interessante Diskussionen reicher haben wir den Workshop abgeschlossen. Herzlichen Dank allen Mitdenker*innen! Die Ergebnisse werden wir in die Gruppe Netzpolitik tragen und in unser Programm einfliessen lassen.

Hier geht’s zu den Folien mit allen Thesen, Themen und Forderungen.

Beyond the Buzzword-Bingo: Digitale Nachhaltigkeit

Karl Digital #6 fragte, wie eigentlich Digitalisierung und Klimawandel zusammenhängen. Die Veranstalterin, die Digitale Gesellschaft, lud mich ein, einen Workshop zum Thema Digitale Nachhaltigkeit zu halten. Ich entwickelte ein Buzzword-Bingo zu diesem Thema und fragte gleichzeitig mich und das Publikum: Was bleibt eigentlich darüber hinaus von „Digitaler Nachhaltigkeit“ übrig?

Digital und Nachhaltigkeit, das sind zwei Schlagwörter. Als ich sie erforschte, stiess ich auf einige Schlagwörter mehr. Ein Buzzword-Bingo bot sich an, um das Thema zu ergründen. Es war insbesondere spannend, verschiedene Ansichten zu Digitaler Nachhaltigkeit anhand des Bingos zu vergleichen – schliesslich sind ja Schlagwörter immer nur so viel Wert wie der Inhalt, mit dem man sie füllt.

Ich wählte die folgenden beiden Konzepte:

Gemeinsam mit dem Publikum spielten wir das Buzzword-Bingo anhand der beiden Konzepte – mit dem folgenden Resultat:

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Es zeigte sich, dass Parldigi als überparteiliche Gruppierung ein sehr technisches Verständnis von Digitaler Nachhaltigkeit pflegt. Es steckt ein ganzes technisch-wissenschaftliches Konzept dahinter. Nachhaltig soll die Herstellung der (immateriellen) Produkte sein – im Gegensatz zum nachhaltigen Verbrauch von natürlichen Ressourcen. Bits und Bäume hingegen verknüpft die Digitale Nachhaltigkeit explizit mit dem Ziel der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit (Umweltschutz, Menschenrechte, …).

Ausserdem identifizierten die Teilnehmenden in einer lebhaften Diskussion verschiedene Begriffe und Aspekte, welche in beiden Konzepten fehlten. Merke: Grosse Begriffe wie Digitale Nachhaltigkeit sind immer nur so gut wie der Zweck, für den man sie einsetzt.

Danke allen Teilnehmenden für ihr Mitmachen und Mitdenken! Und danke auch an Nana Karlstetter und Dimitri Rougy für ihre Beiträge und die interessanten Diskussionen auf dem Podium vor dem Workshop.

Workshop: Big Data in den Sozialwissenschaften

Am 28. November 2019 war ich bei Interface (Unternehmen für Politikevaluation und -beratung) in Luzern eingeladen, einen Weiterbildungsworkshop zu leiten. Dieser stand unter dem Titel: Big Data in den Sozialwissenschaften.

(1) Was ist Big Data?

10 Charakteristika (Salganik 2018:17ff):

  • Big:
    Large datasets are a means to an end; they are not an end in themselves.
  • Always-on:
    Always-on big data enables the study of unexpected events and real-time measurement.
  • Nonreactive:
    Measurement in big data sources is much less likely to change behavior.
  • Incomplete:
    No matter how big your big data, it probably doesn’t have the information you want.
  • Inaccessible:
    Data held by companies and governments are difficult for researchers to access.
  • Nonrepresentative:
    Nonrepresentative data are bad for out-of-sample generalizations, but can be quite useful for within-sample comparisons.
  • Drifting:
    Population drift, usage drift, and system drift make it hard to use big data sources to study long-term trends.
  • Algorithmically confounded:
    Behavior in big data systems is not natural; it is driven by the engineering goals of the systems.
  • Dirty:
    Big data sources can be loaded with junk and spam.
  • Sensitive:
    Some of the information that companies and governments have is sensitive.

big-data-charakteristika

Neue Möglichkeiten

  • Re-Integration von quantitativer und qualitativer Expertise: gemeinsame Nutzbarmachung quantitativer (quantifizierte Daten, Umgang mit statistischer Software) wie qualitativer Kompetenzen (interpretative Kompetenzen, Vielfalt von Datensorten: neben Zahlen, Text, Bilder, Videos, etc.)
  • Erweiterung des Methodenwissens
  • Überwindung von Disziplinengrenzen und Kollaboration mit Natur- und Technikwissenschaften

Neue Stolpersteine und ungelöste Fragen

  • Gefahr neo-positivistisch-technokratischer Evidenzproduktion ohne Berücksichtigung sozialer Kontexte
  • ‘Kolonisierung’ der Sozial- durch Technikwissenschaften (zum Beispiel aktuelle Situation im Feld Computational Social Science) – interdisziplinäre Zusammenarbeit ist bisher eher die Ausnahme
  • Dominanz von Open Data (und anderen “Open-Feldern”: Open Science, Open Government etc.) > der grosse “Datenschatz” ist heute privatisiert
  • Infrastrukturen für entsprechende Forschung/Datenzugänge
  • Wer ist für die ethischen Fragen zuständig?

 

(2) Die Rolle der Sozialwissenschaften

  • ‘Domain knowledge’ natürlich 🙂
    grosse Datensätze werden fast ausschliesslich in heterogenen Teams zusammengesetzt aus verschiedenen Disziplinen bearbeitet. Sozialwissenschaftliche Expertise je nach Thema sehr wichtig
  • Verständnis für Methoden, Vorgehens- und Denkweisen der anderen Disziplinen
  • qualitativ-evaluative Expertise in den quantifizierenden Diskurs einbringen;
    > kritischer Blick auf Prozesse der Datenkonstruktion – welche sozialen und soziotechnischen Prozesse haben Daten mitgeformt statt objektiv abgebildet zu werden?

Herausforderung: Methoden- und Informatikwissen tendenziell ausbauen, ohne allerdings zur reinen ‘sozialen Physik’ (Pentland) zu verkommen.
Beispiel: Der Lucerne Master in Computational Social Sciences, der seit Herbst 2019 an der Universität Luzern angeboten wird.

 

(3) Aktuelle Forschungsfragen

Methoden:
Methodische Fragen und Probleme in verschiedenen Disziplinen, beispielsweise empirische Sozialforschung:

  • wie fehlende/mangelnde Kausalität oder Inferenz von Big Data
  • neue Modi der Datenerhebung (Apps)
  • «text as data» als methodische Herausforderung aufgrund der interpretativen Offenheit, die bestehen bleibt bei Verfahren computergestützter Textanalyse

Algorithmen:
In den letzten 2 bis 3 Jahren ist die Aufmerksamkeit für Algorithmen stark gestiegen, insbesondere Fairness-, Accountability- und Transparency-Aspekte werden vermehrt erforscht/thematisiert.

 

(4) Hands-On!

 Daten

Open-Data-Repositorien:

 

Social Media:

 

Sonst im Netz:

 

Werkzeuge

  • R ist heute für statistische Auswertungen die gängige Programmiersprache
    > R-Studio als Programmier-Umgebung
    > Es gibt gute Packages für Visualisierungen der Auswertungen (ggplot2) und auch Textanalyse
    > Heute wird Statistik an der Uni mit R gelehrt und gelernt
  • Python ist heute unter Data Scientists die verbreitetste Programmiersprache

 

In einem ersten Schritt: Mitreden können in den spezifischen Programmiersprachen-Communities ist der erste und wichtigste Schritt!

Auf diesem Grundstock kann man dann für spezifische Interessen und Projekte sein Wissen vertiefen und Packages nach seinen Bedürfnissen suchen.

r-python

Wichtig zudem:

 

Wie einsteigen?

Matt Salganik (2018): Bit by Bit. Social Science Research in the Digital Age. Princeton: Princeton University Press.
https://www.bitbybitbook.com/

Etwas theoretischer:

Noortje Marres (2017): Digital Sociology. The Reinvention of Social Research. Cambridge: Polity.
http://noortjemarres.net/index.php/books/

Landwirtschaft 4.0? Senden fehlgeschlagen.

 

Blumige Wiesen, die Getreidehalme beugen sich im sanften Wind, Glockengebimmel. Heile Welt im Sempacherseegebiet. Die Kuh blickt mich erstaunt an, während sie gerade ihre letzte Mahlzeit wiederkäut. Ich blicke erstaunt zurück: Wie kann es sein, dass wir, benebelt vom heile-Welt-Alpabzug-Romantik-Bild, kaum merken, dass die Landwirtschaft eine derjenigen Branchen ist, die technologisch gerade einen rasanten Wandel durchmachen?

Wir brauchen die Bäuerinnen und Bauern. Sie sind ein wichtiger Schlüssel für einen nachhaltig bewirtschafteten Planeten und die Pflege der natürlichen Ressourcen. Sind unsere Bäuerinnen und Bauern auf die Zukunft vorbereitet? Oder treffender gefragt: Auf das Jetzt, wenn es darum geht, die technologischen Möglichkeiten zu nutzen: Für eine ökologischere Landwirtschaft, weil intelligentere Systeme Pflanzenschutzmittel schonender spritzen; für mehr regionale Wertschöpfung, weil die Produktionskreisläufe lokal organisiert sind; für mehr Selbstbestimmung, weil die Betriebe ihre Daten selber kontrollieren und nutzen können, um die Produktion effizienter zu machen (siehe auch die Charta zur Digitalisierung der Land- und Ernährungswirtschaft). Dies sind nur drei Beispiele, wie Technologie die Luzerner Landwirtschaft zum Positiven verändern könnte. Frag mal deine Bäuerin, deinen Bauern des Vertrauens: Sind sie darauf vorbereitet?

Ich gehe davon aus, die Antworten würden sehr unterschiedlich ausfallen. Wie immer: Es gibt die technologieaffine Avantgarde. Und den grossen Rest. Auf lange Sicht wird sich kein Bauer der technologischen Entwicklung verweigern können. Und es ist die Selbstverantwortung der Berufsleute, ihr Handwerk weiterzuentwickeln. Sie organisieren sich in Branchenverbänden, prägen ihre Ausbildung mit, suchen die Kooperation mit der Wissenschaft. Ein vorausschauender Kanton würde dies antizipieren und den Bauernstand in dieser Transformation unterstützen. Weil die lokale Landwirtschaft dadurch ökologischer, die regionale Wertschöpfung besser und die Bäuerinnen selbstbestimmter werden. Leider ist der Kanton Luzern hierbei nicht vorausschauend.

Die „Strategie Agrarpolitik Kanton Luzern“ von 2018 erwähnt die Digitalisierung gerade mal in einem kurzen Abschnitt der Umfeld-Analyse. Massnahmen schlägt der Bericht zuhauf vor, 39 – keine davon bezieht sich auf „Chancen der Digitalisierung“. Ganz anders der Kanton Waadt. Dieser plant gemäss seiner Digitalstrategie folgende Massnahme: „Die Waadtländer Landwirtschaft auf Veränderungen (…) im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Agrarsektors vorbereiten“.

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Wieso antizipiert der Kanton Waadt die Digitalisierung in der Landwirtschaft viel stärker als Luzern? Die einfache Antwort lautet: Seine Digitalstrategie hat einen umfassenden Anspruch. Sie beschränkt sich nicht auf die Digitalisierung der verwaltungsinternen Prozesse – E-Government -, sondern öffnet den Blick auf Entwicklungen in ganz verschiedenen Bereichen, in denen Digitalisierung eine Rolle spielt, beispielsweise Mobilität, Bildung, Wirtschaft. Den Themen liegen fünf Perspektiven quer, die das Gerüst der Strategie sind: Daten, Infrastrukturen und Sicherheit, Begleitung von Menschen, Begleitung von Unternehmen und Governance. Eine Auswahl weiterer Ideen aus der Strategie: digitale Zugänglichkeit von kantonalen Museen und Bibliotheken, die Polizei für die Anliegen der digitalen Gesellschaft schulen, Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Online-Medien schulen, digitale Kompetenzen in RAV-Weiterbildungen stärken, eine Austauschplattform mit Unternehmen zur Bekämpfung von Internetkriminalität, attraktive kantonale Arbeitsbedingungen für Digital Natives, eine öffentliche Datenpolitik einführen – und einen für alle zugänglichen Service public fördern, einschliesslich der nicht-digitalen Form. Eine Digitalstrategie also, die bewusst sagt: Die Verwaltungsdienstleistungen müssen auch in nicht digitaler Form zugänglich bleiben.

Was will der Kanton Luzern? Nun, wie wir wissen, hat er sich erst gerade entschlossen, eine „Digitalisierungsstrategie“ zu erarbeiten. Während sie auf die institutionellen Träger eingeht, bleibt die Motion schwammig über die thematische Breite, welche diese Strategie fassen soll. Immerhin fordert sie eine zentrale Koordinationsstelle (Chief Digital Officer) und eine regelmässige Berichterstattung über die Fortschritte. In seinem ursprünglichen „Gegenvorschlag“ postulierte der Kanton, dass lediglich die E-Government-Strategie weiterentwickelt werden soll, man sich aber weiterhin an den Zielen der schweizerischen E-Government-Strategie orientieren möchte: Kunden- und dienstleistungsorientierte Verwaltung, Prozessoptimierung, Voraussetzungen schaffen (organisatorisch, finanziell, rechtlich, technisch). Von den Menschen im Kanton keine Rede.

Die Diskrepanz zum Waadtländer Vorschlag ist frappant. Nun mag man einwenden, dass die Romands halt über ein anderes, viel interventionistischeres Staatsverständnis verfügten, und dass zu viel staatliche Einmischung wenig Sinn mache. Der Blick auf andere Kantone zeigt aber, dass der Waadtländer Ansatz kein Ausreisser ist, sondern viele andere dieselbe Richtung einschlagen: Der Kanton Aargau will seine Personalstrategie aus der Digitalstrategie ableiten; Graubünden fördert Unternehmen und öffentliche Institutionen, welche die digitale Transformation unterstützen; Glarus installiert ein „Sounding Board“ und bezieht dabei die Jugend und Avenir Suisse ein; der Kanton Genf erarbeitete seine Strategie partizipativ, er will damit auch neue Geschäftsfelder und -modelle in der Wirtschaft antizipieren; sogar die Konferenz der Kantonsregierungen empfiehlt in ihren Leitlinien: Datenhoheit und Aufklärung der Bevölkerung sowie deren Partizipation in der Politikgestaltung sind erstrebenswert. Der Bund hat schon seit einigen Jahren eine umfassende „Digitale Strategie“ mit einem Aktionsplan für verschiedene Themenbereiche. Und über die Schweiz hinaus nur ein Beispiel: Die Stadt Wien führte mit der „Digitalen Agenda“ eine Partizipationsprojekt durch, das 1.8 Millionen Rückmeldungen generierte.

Nun ja – im ganzen Kanton gibt es nicht mal so viele Menschen. Und Schweine. Zusammengezählt. Eine Schuhnummer kleiner ist also völlig in Ordnung. Aber die Luzerner Digitalstrategie soll kein verwaltungsinternes Projekt bleiben. Sie soll einem vernetzenden Ansatz folgen und Ziele und Massnahmen im Zusammenspiel mit privaten und öffentlichen Akteurinnen und Organisationen entwickeln. Sie soll die Rolle von Daten und digitalen Prozessen, ihre Nutzung und ihren Schutz beleuchten, weil dies neue Geschäftsmodelle ermöglicht und gleichzeitig unsere persönlichen Grundrechte betritt. Sie soll wirtschaftliche und soziodemografische Entwicklungen antizipieren und sie prägen, weil das die Raumplanung und die kantonalen Steuereinnahmen beeinflusst. Sie soll die Menschen und Unternehmen im Kanton Luzern – zum Beispiel der Bäuerin oder dem Bauern deines Vertrauens – unterstützen, damit diese sich den technologischen Wandel zunutze machen können.

Deshalb habe ich im Kantonsrat eine umfassende Digitalstrategie für den Kanton Luzern gefordert.